"Es ist müßig, über Auswahlen zu streiten ... Jeder Versuch einer Auswahl aus schwer übersehbarer Fülle kommt der Quadratur des Kreises gleich und bleibt daher unbefriedigend. So ist auch hier vieles gar nicht erwähnt, was ein Forscher oder ein Liebhaber vielleicht für besonders beachtenswert hält ... Es galt, an die zeitlich begrenzten Möglichkeiten des Studiums zu denken. Den suchenden Studenten zu planmäßiger und konzentrierter Lektüre anzuhalten, ist der Sinn der Liste" - so leitete Karl Otto Conrady die seiner Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft[1] beigegebene Leseliste ein - mit ihren 20 Seiten immer noch der zweitbeste Ratschlag, den der akademische Lehrer den Studenten der neueren deutschen Literaturgeschichte geben kann, wenn man ihnen den besten schon vorenthält: täglich Primärtexte zu lesen, soviel wie möglich, extensiv neben den Lehrveranstaltungen, intensiv für dieselben, und Sekundärliteratur als das zu nehmen, was sie ist: lediglich sekundär gegenüber den Quellen. Eigentlich eine schöne und leistbare Arbeit, die auch Vergnügen machen sollte: In drei Tagen trug ein Rhapsode die "Ilias" vor, warum sollte ein Student sie nicht in drei Tagen in einer Übersetzung lesen können?
Nun kommen fast gleichzeitig zwei neue Listen auf den Tisch und fachen die verwirrende Kanon-Debatte neu an. Nur Segebrecht bekennt sich aber zu der möglichen kanonisierenden Nebenwirkung seiner Liste, während die des Reclam-Verlags sich von einem solchen Anspruch ausdrücklich distanziert. Leselisten können für Studium oder sonstiges literarisches Interesse immer nur das Notwendigste, nie Hinreichendes bieten.
Den Kommentierten Empfehlungen des Reclam-Verlags liegt die Auffassung
zugrunde, aus den etwa 600 verzeichneten Autoren und Werken lasse sich
"ein zuverlässiger, fachwissenschaftlich verantwortbarer Einstieg in
den Entwicklungsgang namentlich der deutschen Literatur" finden und
die "reale Dynamik der Literaturgeschichte ... erfahrbar" machen. In
der Tat enthält die Liste keinen Titel, von dem man nicht sagen würde:
"Nimm und lies!" Das gilt freilich für den literarischen Teil des
gesamten Programms der Universal-Bibliothek, so daß ein Student lieber
gleich zu Reclams Titel-Verzeichnis selbst als zu dieser Leseliste
greifen sollte. Was die Liste zum Ärgernis macht, sind die
Kommentierungen. In drei bis sieben Zeilen läßt sich zu Ilias oder
Odyssee, zum Grünen Heinrich oder zum Mann ohne Eigenschaften -
abgesehen von Entstehungs- oder Erstdruckdaten - nichts Gescheites
sagen![2]
Solcher Kommentierungen enthält sich Segebrecht in seinem "Vorschlag"
Was sollen Germanisten lesen?[3] mit guten Gründen. Dafür sind in den
Text zahlreiche Abbildungen eingestreut: mal eine Handschriftenprobe,
mal ein Titelblatt, mal eine zeitgenössische Illustration, mal ein
Autorenporträt. Auch er teilt Entstehungsdaten mit, verweist außerdem
auf zahlreiche Anthologien, zu denen er auch die bibliographischen
Angaben bietet, während er für die Einzelausgaben der Werke
sinnvollerweise nur den Blick in die Taschenbuchverzeichnisse von
Reclam, Insel usw. empfiehlt. Segebrecht will mit seiner Liste zum
Lesen "verführen", besonders zum Lesen "unter dem Gesichtspunkt des
Zusammengehörens ... Dabei lassen sich Reihenbildungen der
verschiedensten Art denken: nach Themen und Stoffen, Gattungen und
Formen, nach Epochen und Generationen ..."
Dieser Anspruch wird allerdings für die fremdsprachige Literatur nicht
eingelöst, wenn S. 34 f. in der Form einer Anzeige "Wir protestieren
... Ohne uns geht es nicht!" einige Autoren der Weltliteratur mit
allermeist nur einem Werk daherkommen und wenn es gar am Schluß der
Anzeige heißt: "Sie werden lachen: Die Bibel." Da läse man lieber
etwas Genaueres, daß es z. B. unter dem Aspekt der Wirkungsgeschichte
für den Germanisten wichtiger ist, Genesis, Exodus, Hiob, Psalter, das
Hohelied, Jesaja, die Evangelien, die Paulusbriefe und die Apokalypse
gründlich zu kennen als Deuteronomium, die kleinen Propheten oder die
Johannes-Briefe. Wo schon Theologie-Studenten der Wegweisung bedürfen,
brauchen die Studenten der Literatur sie erst recht. Auswahl hin,
Auswahl her - hier fehlt unverzeihlich viel, z. B.: Sappho, Pindar und
Menander, Catull, Apuleius und Augustinus, Goldoni, Leopardi und
Svevo, Villon, La Rochefoucauld und Hugo, Tirso de Molina, Borges und
Paz, Turgenjew, Tschechow und Mandelstam, Chaucer, Albee und O'Neill,
Tausendundeine Nacht und der Cid. Von Horaz werden nur die Poetik,
nicht die Carmina, von Aristophanes nur die Vögel, nicht die
Lysistrate genannt. Zur Weltliteratur bietet die Reclam-Liste ungleich
mehr als der mißglückte Scherz dieser Annonce.
Über aller Kritik sei jedoch das Erfreuliche an den Listen nicht
vergessen. Sie setzen ein Zeichen, daß nach Jahrzehnten eines weithin
zur Iliteralität verkommenen Deutschunterrichts und eines entsprechend
depravierten Studiums das Bewußtsein dafür zurückkehrt, daß ernsthafte
Beschäftigung mit Literatur im Kern bedeutet, sich der
anstrengend-vergnüglichen Lektüre von Höhenkammliteratur zu widmen,
statt seine Zeit für eine (oft nur vermeintlich) kritische Analyse von
Trivialliteratur o. ä. zu verwenden. Vielleicht hätten die Autoren der
Listen gleich auch noch aussprechen sollen, daß tägliche Lektüre so
unabdingbare Grundlage für das Literaturstudiums ist wie das Üben für
das Violinspiel und daß es sich mit beidem insofern gleich verhält,
als es Zeit kostet und einem von keinem Dritten abgenommen werden
kann. Lesen lassen kann der Manager, nicht der Literaturstudent.
Wer sich anregen lassen will, greife getrost zu den gedruckten
Leselisten! Die beiden neuen Listen schließen - im Gegensatz zu
Conrady - auch das Mittelalter ein. Da die Listen zugleich über sich
hinaus weisen, können sie auch nicht als Gängelei mißverstanden
werden. Zugleich beschränken sie sich auf einen faßlichen Rahmen - im
Gegensatz etwa zu der Zweitvermarktung des Neuen Kindler unter dem
Titel Hauptwerke der deutschen Literatur.[4] Dort wird hochgestapelt,
wenn es von 19.000 Einzelbeiträgen heißt, ihre Auswahl orientiere sich
"an den Bedürfnissen von Schule und Universität". Da taucht am
Horizont schon die aus Examina bekannte Elendsgestalt auf, die Lektüre
von Werken durch die von Kindler-Artikeln ersetzt hat. Bringt es doch
auch das fleißigste Leseleben auf wenig mehr als 8.000 wirklich
gelesene Bücher.
Hans-Albrecht Koch
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