Über jede Auswahl kann man trefflich streiten. Vieles muß hier notgedrungen willkürlich entschieden werden, auch wenn beim Vergleich gelegentlich Zweifel aufkommen, etwa ob der aufgenommene Siegfried von Vegesack gegenüber dem gestrichenen Otto von Taube wirklich der bedeutendere deutsch-baltische Erzähler ist. Die verkürzte Taschenbuchausgabe kann gerade den gewichtigsten Vorzug der großen Ausgabe nicht wiederholen: auch zu den poetae minores solide Information zu bieten.
Im Vorwort des Lexikons heißt es: "Sein Umfang wird genügen, um auf die meisten Fragen, die Literaturliebhaber, Studenten und Schüler beantwortet wissen wollen, verläßliche Auskunft zu geben. Es reicht bis in die Gegenwart, weil es anerkannte Autoren einbezieht, die vor dem Zweiten Weltkrieg und während seines Verlaufs geboren wurden." Ein solch allzu mechanisch angewandtes chronologisches Prinzip hätte bei der jüngsten Literatur nicht die kritische Auswahl ersetzen dürfen. Der Platz hätte sich durch eine zwar schmerzliche, aber wohl zu rechtfertigende Reduktion der in erfreulich großer Zahl berücksichtigten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren bzw. Anonyma wohl gewinnen lassen.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Lexikon - es sei denn, er hieße F. X. Kroetz, dem sein Geburtsjahr 1946 die Aufnahme nicht verwehrt hat. Ansonsten geht es aber ganz konsequent zu. So sind aus der großen Ausgabe z. B. nicht übernommen die Artikel zu den Lyrikerinnen Elisabeth Borchers, Ulla Hahn, Karin Kiwus oder zu den Erzählern Silvio Blatter, Gert Jonke und Roswitha Quadflieg, die gerade mit ihren beiden jüngsten Romanen Die Braut im Park und Bis dann zu einem in der Gegenwartsliteratur bisher nicht vernommenen Ton gefunden hat.
Da sicher bald auch eine Taschenbuchausgabe der beiden Sachbände des großen Lexikons (Bd. 13 -14) erscheinen soll, sei der Wunsch ausgesprochen, sie möge im Interesse der Studenten ungekürzt herauskommen.
Hans-Albrecht Koch