Beide Werke können nicht unmittelbar miteinander verglichen werden, nicht weil die methodischen Ansätze - hie Synthese, da ein um analytische Kategorien erweiterter Biographismus - das ausschlössen, sondern weil sie sich auf verschieden lange Zeitspannen erstrecken.
Der von Hartmut Steinecke herausgegebene Sammelband Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts enthält Beiträge zu 60 Autoren des gesamten 20. Jahrhunderts, die von den Klassikern der Moderne (Schnitzler, Hauptmann, George, Hofmannsthal, Kraus, T. und H. Mann) bis zu den Zeitgenossen C. Wolf, G. Grass, G. Kunert. P. Handke und H. Müller reichen. Wie schwer sich Herausgeber und Mitarbeiter die Auswahl gemacht haben, wird im Vorwort deutlich. Es liegt auf der Hand, welche Schwierigkeit es bedeutet, verlegerische Vorstellungen zum Umfang und literaturgeschichtliche Qualitätsurteile bei der Auswahl in Einklang zu bringen. Mit Zustimmung liest man, daß Beiträge zu R. Borchardt, J. Wassermann, F. Werfel, S. Zweig, H. Lenz oder A. Muschg u. a. erwogen worden sind, auch wenn die Autoren schließlich keine Aufnahme gefunden haben. Die Erweiterung des ursprünglich vorgesehenen Umfangs hat zu einem beachtlichen Ergebnnis geführt. Da verdient Anerkennung vor allem, daß die Auswahl auch auf Namen gefallen ist, die zu Unrecht in Vergessenheit zu geraten drohen, etwa E. Meister, oder an denen sich die Kritik besonders reibt, wie z. B. B. Strauß.
Alle Beiträge berücksichtigen Biographie, Werkanalyse und Wirkungsgeschichte, verteilen die Gewichte aber durchaus unterschiedlich. Nirgendwo jedoch fehlen die Fäden, die das Werk eines Autors mit seinem politischen oder sozialen Umfeld und mit dem zeitgenössischen literarischen Leben verknüpfen. Dem distanzierteren Blick der Auslandsgermanisten - es finden sich erfreulicherweise mehrere unter den Beiträgern - gelingt die souveräne Verbindung anschaulicher Details und weiter Perspektiven zuweilen besonders gut: Beispiele sind die Aufsätze S. Bauschingers, W. Nehrings und M. E. Keunes zu Lasker-Schüler, Hofmannsthal und Kunert.
Den einzelnen Beiträgen sind kurze subjektive und objektive Personalbibliographien beigegeben, am Schluß findet sich eine gute Auswahlbibliographie übergreifender Titel zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Die neue Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart stellt ein ganz außerordentliches Werk dar. Der Anspruch, "die bei Bänden zur Nachkriegsliteratur nicht selten zu beobachtende verwirrende Additivik bloßer Längsschnittartikel" (S. XXII) zu vermeiden, wird eingelöst. So synthetisierend, integrativ und kontrastiv zugleich ist die deutsche Literatur der letzten fünfzig Jahre noch nirgendwo dargestellt worden. Nichts von der Disparatheit der Konzeptionen, die so oft den Charakter von Sammelbänden ausmacht, ist diesem Unternehmen anzumerken. Herausgeber und Autoren haben die Verzögerungen beim Abschluß des Bandes genutzt und in der integrativen Behandlung der Literatur der alten Bundesrepublik und der DDR ein Stück geistiger Wiedervereinigung geleistet. Aus der Tatsache, daß österreichische und deutschsprachige Schweizer Nachkriegsautoren ihre Werke deutschen Verlegern anvertraut haben und den größten Teil ihrer Leserschaft in Deutschland finden, ist hier der einzig richtige Schluß gezogen, sie nicht getrennt von der deutschen Literatur zu behandeln. Und dabei wird denn erst ganz deutlich, in welchem Ausmaß österreichsiche und schweizerische Autoren Themen und Tendenzen der deutschen Nachkriegsliteratur bestimmt haben.
Der methodische Ansatz der gelungene Synthese liegt im Verzicht auf eine Gliederung ausschließlich nach Gattungen oder nach der chronologischen Abfolge. Vielmehr hat man eine Verbindung von beidem gewählt: Zunächst gliedert sich der Band in einer schematischen, freilich im einzelnen flexibel gehandhabten Einteilung in Kapitel zu den fünfziger, sechziger usw. Jahren, innerhalb dieser Dekaden-Kapitel finden sich jeweils Abschnitte zum literarischen Leben und den Gattungen im Westen, dann zum literarischen Leben und den Gattungen in der DDR. Dies gleichsam mit Koordinaten arbeitende Verfahren ergibt manch überraschende Konstellation.
Der Umfang des Bandes erlaubt, Zusammenhänge wirklich als solche aufzuweisen und sie allenthalben im Detail - etwa durch größere Zitate oder Paraphrasen des Inhalts - zu veranschaulichen und zu begründen. So wird z. B. erkennbar, wie sich die Funktionen der Gruppe 47 bei unveränderten Ritualen gewandelt haben; wie sich in derselben Nachkriegsphase parallel zu der vordergründig natürlich viel auffälligeren Politisierung der Literatur eine neue Innerlichkeit herausgebildet hat; was den von E. Staiger ausgelöste Zürcher Literaturstreit nicht nur mit der Literaturwissenschaft, derer die literarische Produktion selbst ja getrost hätte entraten können, sondern mit literarischen Entwicklungen selbst verbunden hat.
Vorzüglich der Abschnitt zum "sozialistischen Sturm und Drang" der fünfziger Jahre: "Wenn man die Entwicklung der sozialistischen Literatur in der DDR der fünfziger Jahre in Analogie zur Entstehung der bürgerlichen deutschen Literatur im 18. Jahrhundert sieht, dann ergeben sich aufschlußreiche und geradezu erheiternd viele Parallelen, dann wächst aber auch die Bereitschaft, dieser Entwicklung größere Zeiträume zuzubilligen, als sie sich selber, zu ihrem Schaden, eingeräumt hat. Denn in den fünfziger und sechziger Jahren konnte es der DDR, politisch wie kulturell, gar nicht schnell genug gehen" (S. 321), und damit sind die Gründe aufgedeckt, warum man sogar von so etwas wie einer - nicht erreichbaren - "sozialistischen Klassik" geträumt hat.
Von Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt, der interessantesten Antiken-Rezeption seit H. Brochs Tod des Vergil, in der auf der Suche nach Ovids Metamorphosen Subjekt und Welt ineinander vergehen, heißt es, um eine zweite Probe der trefflichen Darstellungskunst des Bandes zu geben: "Das literarische Referenz-System [auf den terminologischen Jargon hätte man freilich verzichten sollen], auf das sich Ransmayr bezieht und das er als "Ovidisches Repertoire" im Anhang seinem Buch beigefügt hat, nämlich Die Metamorphosen, ist der Aufriß einer poetischen Kosmologie, die in mythischen Bildern und Geschichten die Entwicklung des Menschen von einem archaischen, barbarischen Anfangszustand bis zur Vollkommenheit des augusteischen Goldenen Zeitalters entwirft. Ransmayrs Buch stellt den Gegen-Entwurf dazu dar, die Liquidation der Geschichte, die bei der augusteischen Gegenwart, mit der Ovid endet, einsetzt und die Erstarrung in Steinwüste und Wahnsinn als Endzustand zeigt" (S. 821).
Wenn Herausgeber und Autoren eine bloße Additivik ausdrücklich
ablehnen, bedeutet das auch, daß nicht alle Namen, Werke, Strömungen
usw. einer vordergründigen Vollständigkeit halber erwähnt werden. Das
ist gut so und hilft zu klaren Konturen. Allerdings leuchten nicht
alle Auslassungen ein. Über Verlage, Buchgemeinschaften, auch über
kurzlebige Erscheinungen, wie etwa den Werkkreis "Literatur der
Arbeitswelt", über Zeitschriften, Theateraufführungen und
Literaturunterricht, über das Verhältnis von Literatur und Medien
- darüber erführe man in einem Werk dieses Zuschnitts gern mehr.[1]
Hier noch ein paar Monita im Detail: Nicht behandelt wird, welchen
Platz Willy Haas noch lange Jahre nach dem Krieg in der
Literaturkritik eingenommen hat, oder was die Zeitschrift Literatur
und Kritik unter den Händen K. Klingers für die Ausbildung des neuen
literarischen Austriazismuzs bewirkt hat. Wir erfahren nichts über die
Zeitschrift Lynkeus, in der I. Bachmann ihre ersten Texte
veröffentlicht hat, nichts über den kulturpolitischen Wirbel, in den
Jörg Mauthe das halbe literarische Wien eine Zeitlang versetzt hat,
auch nichts über den schelmischen Dichter-Juristen H. Rosendorfer.
Aber auch Joachim Günther - und das ist unverzeihlich - wird nicht
einmal genannt, der in seinen Neuen deutschen Heften fast vierzig
Jahre hindurch den anspruchsvollsten und unbestechlichsten
Besprechungsteil aller deutscher Zeitschriften geboten hat, für dessen
lotsenhafte Sicherheit die Bewunderung im Rückblick noch wächst.
- Übersetzung als literarisches Ereignis gibt es - man hat sich an
diesen weißen Fleck unserer literarhistorischen Kartographie leider
allzusehr gewöhnt - auch in dieser Literaturgeschichte nicht: keine
Aischylos-Adaptionen eines Matthias Braun, in denen Ida Ehre nach dem
Zweiten Weltkrieg brillierte; kein deutscher Balzac aus der Feder
Ernst Sanders usw. usw. - Falsches ist nur an einer Stelle
aufgefallen: S. 66 wird die inzwischen schon in Literaturlexika
eingedrungene Legende wiederholt, es handele sich bei Wolf von
Niebelschützens utopisch-galantem Roman Der blaue Kammerherr um eine
Hofmannsthal-Adaption.
Gut 60 Seiten nimmt eine stupende und übersichtlich gegliederte
Bibliographie ein, während das Lieraturverzeichnis in R. Schnells oben
erwähnter Drastellung gerade 5 Seiten umfaßt. Ein Register verzeichnet
die Namen von Personen und Periodika, ein anderes verweist von
Werktiteln auf die Autoren.
Entsprechend dem Charakter des übergeordneten Gesamtwerks enthält die
neue Literaturgeschichte keine auflockernden Abbildungen. Da alle
Autoren, was sie zu sagen haben, vorzüglich lesbar ins Wort zu fassen
verstehen, empfindet man den Verzicht auf solch eher modisches Beiwerk
nachgerade als Gewinn. Das Werk setzt höchste Maßstäbe und löst sie
ein. Es ist nach Inhalt und Methode das mit Abstand beste Hand- und
Studienbuch zur deutschen Nachkriegsliteratur geworden.
Hans-Albrecht Koch
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