Ein inhaltlicher Vergleich der alten und neuen Ausgabe zeigt insgesamt
die Tendenz zu einem abgespeckten Stichworteintrag. Akustische
Grundbegriffe z.B. ist nunmehr Teil des umfassenderen Artikels
Akustik. Aber auch die in über vier Jahrzehnten fortgeschrittene
Wissenschaftserkenntnis schlägt sich in mancher Stichwortfassung
nieder. Statt Affektenlehre findet der Leser Affekt: ein Wandel von
dem engen kompositionstechnischen Begriff zum Verständnis als
wirkungsästhetischer Wert. Eine gewisse Angleichung an den Grove ist
in den Länderartikeln zu vermerken; nun heißt es konsequent nicht mehr
Ägyptische Musik, sondern Ägypten. Entsprechend entfallen die alten
Begriffe Afrikanische Musik und Äthiopische Musik (statt letzterem nun
Äthiopien und Äthiopische Kirchenmusik). Das Prinzip spezifischer
Länderartikel herrscht vor. Der Eintrag Amerika hat dabei eine
bemerkenswerte Umwertung erlebt. Fand der Leser in der alten Ausgabe
unter diesem Begriff ausschließlich Nordamerika behandelt,[3] so sind in
der Neuausgabe gerade Kanada und die Vereinigten Staaten im Artikel
ausgenommen. Diese erhalten in den entsprechenden Bänden eigene
Einträge. Behandelt wird unter diesem Stichwort ausschließlich
Ibero-Amerika. Altamerika erhält gar einen seperaten Artikel.
Bemerkenswerte neue Stichwörter sind neben anderen: Afrika südlich der
Sahara, Biblische Musikinstrumente, Afroamerikanische Musik,[4] Blues
- erfreuliche Hinweise auf eine "veränderte Gewichtung von
Teilbereichen
und zugleich Öffnung des Faches".[5] In dem von Wilhelm Seidel
verfassten Artikel über Absolute Musik wird der wissenschaftliche
Erkenntnisgewinn gegenüber der alten Ausgabe besonders manifest.
Walter Wiora argumentierte noch unhistorisch, von einem rein
systematischen Verständnis her, und sah sich gezwungen, die Frage
aufzuwerfen: "Wie soll sich die Wissenschaft zu alledem verhalten".
Hier hat Dahlhaus doch eine deutliche und sicher unwiderrufliche Zäsur
gesetzt. Daneben gibt es allerdings auch Artikel, die überaus stark
von dem individuellen Forschungsschwerpunkt der Autoren geprägt sind
(die Literaturangaben geben darüber Aufschluß). Abendmusik etwa:
Schilderte der alte Text eher die Praxis, müht sich der neue Text
darum, die Nähe dieser Lübecker Institution zur Oper herauszustellen.
Eine gewisse praktische Anschaulichkeit, auch Faktisches, ging dabei
zu Lasten der Theorie verloren. Ebenso zeigt das Beispiel Barock, daß
die alte MGG nicht gänzlich überflüssig geworden ist. An die Stelle
der Darstellung Blumes, "die weder wiederholt noch verbessert oder
auch nur modernisiert werden" konnte (Vorwort, IX), trat eine
Reflexion über Epochenkonzepte. Daß freilich im Artikel
Aufführungspraxis nach wie vor mit dem so problematisierten
Epochenverständnis - "Musik des Barock und der Klassik" - hantiert
wird, ist denn wohl auch als Zugeständnis an die unausrottbare
populäre Begrifflichkeit zu interpretieren.
Über die Bedeutung der neuen MGG als legitimer Nachfolgerin des alten
Standardwerkes gibt es keinen Zweifel. "Wir wollen nur hoffen und
wünschen, daß das Unternehmen nicht das Schicksal mancher großer
Realenzyklopädien erleiden möge: jahrzehntelang auf den Abschluß
warten zu müssen", schrieb ein Rezensent nach Erscheinen des 2. Bandes
der alten Ausgabe.[6] Die Befürchtungen waren seinerzeit gerechtfertigt.
Die neue MGG verspricht dagegen in spätestens zehn Jahren vollständig
vorzuliegen. Der Sachteil in 8 Bänden soll bis 1998 abgeschlossen
sein, ein Registerband umgehend folgen. Das Erscheinen des
Personenteils in 12 Bänden ist für die Jahre 1998 bis 2004
projektiert.
Reiner Nägele
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