Zur Entstehung. Ende 1986 entschloß sich der Walliser Drucker und Verleger Ferdinand Mengis (*˙1924) zu einem solchen Nachschlagewerk und realisierte es auf privater Basis, als sein persönlicher Beitrag zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft. Ihm zur Seite stand der aus Berlin gebürtige Chefredakteur Dr. Wilhelm Ziehr (*˙1938) und seine Frau, die Kunsthistorikerin Dr. Antje Ziehr. Er holte seine lexikographischen Kenntnisse im Hause F. A.˙Brockhaus. Länderkunde und Sachbücher waren sein Aufgabenkreis, darüber hinaus ist er als Lyriker hervorgetreten.
Eine eigene Art universell zu sein. In diesem Werk verliert die Schweiz das Bild der "Alphorn spielenden Sennen" und der "Schokolade", gewinnt aber um so mehr an Kulturgeschichte und Weltoffenheit. Was damit gemeint ist erkennt man z. B. am Artikel über den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. Obwohl er aus Berlin stammt und österreichischer Staatsbürger war, wird ihm ein längerer Artikel zuteil als im Brockhaus und das alleine deshalb, weil er in Zürich tätig war. Auch Wahlschweizer wie Hermann Hesse sind ausführlich erwähnt, umgekehrt beansprucht ein Johann Jacob Burckhardt im Schweizer Lexikon keinen zusätzlichen Raum, ist er doch in deutschen Lexika hinlänglich erwähnt.
Über Zaire erfährt man im allgemeinen Teil nicht mehr als in vergleichbaren Werken, doch erwähnt das Schweizer Lexikon die Schweizerkolonie von 370 Personen, von denen über 100 das Doppelbürgerrecht besitzen. Zu Goethe und Schiller wird vieles gedrängt wiedergegeben, aber ihre vielfältigen Beziehungen zur Schweiz werden um so ausführlicher dargelegt.
Die Schweiz wird eingebettet in das heutige Europa und die ganze Welt. Sie erscheint immer wieder verwurzelt im internationalen Geschehen und erweist sich als aktiv im geistigen Austausch mit vielen Ländern. Es ist eine Eigenart dieses Lexikons, sowohl in Biographien als auch in Sachartikeln, immer wieder Bezüge zur Schweiz zu zeigen. Man lese die Artikel Bibliothque Britannique, Edinburgh oder Johann Jakob Bodmer und Shakespeare. Gelegentlich erinnert sich das Schweizer Lexikon auch unliebsamer Zeitgenossen vergangener Zeiten, die im Laufe der wechselvollen Geschichte aus allen deutschen Lexika eliminiert worden sind. Das Schweizer Lexikon bringt solche Lücken zum Vorschein, und als Beispiel sei der aus Gießen stammende Zoologe Carl Christoph Vogt genannt. Es fehlt aber auch nicht der kritische Blick nach Innen. Viele Stichwörter betreffen das Zeitgeschehen (Gewalt gegen Frauen, Sexismus, Graue Panther, Hausbesetzung), erklären schweizerische Eigenarten (Ammann, Schultheiß, Waisenvogt) oder beschreiben schweizerisches Brauchtum (Sechseläuten, Zibelemärit). Alle diese Aufgaben hat die Redaktion meisterhaft bewältigt und der distanzierte Blickwinkel des Berliner Chefredakteurs war dem Werk bestimmt förderlich.
In vielen Wissensgebieten (z.B. Musik) arbeiteten Fachleute aus mehreren Sprachregionen. So konnte gelegentlich einer dominanten deutschschweizerischen Vormachtstellung eine französische und italienische Meinung hinzugefügt werden, und gerade daraus entstanden neue Aspekte im Bereich des kulturellen Nebeneinanders. Die Erschließung der rätoromanischen Sprache und der bündnerischen Kultur wurde besonders gepflegt und durch enge Zusammenarbeit mit der Lia Rumantscha auch verwirklicht. Außergewöhnlich war es auch, daß der Kanton Graubünden eine Fachkraft zur Verfügung stellte, um die Stichwörter des Kantons zu bearbeiten.
Das Werk richtet sich in gleicher Weise an Benutzer in der Schweiz, vielleicht sogar noch mehr an interessierte Leser im Ausland. Es wäre falsch, zu behaupten, das Schweizer Lexikon sei eine Quelle, aber ich meine, es ist ein absolut tauglicher Ersatz für fehlende Quellen in Bibliotheken und Redaktionsstuben in der weiten Welt. Ernsthafte Schreiber werden kaum über das gesammelte Wissen hinwegschauen können.
Das Äußere, Präsentation und Aufmachung. Die äußere Gestaltung der
sechs Bände zeigt eine hohe Perfektion. Nicht nur der Inhalt gehorcht
einem eigenen Konzept und strengen Regeln, auch die Präsentation und
mit ihr die künstlerische Gestaltung des Werkes sind von ganz feiner
Art. Die graphische Ausarbeitung, vierfarbige Bandfrontispize und 26
Buchstabenblätter, wurde dem bekannten Basler Gestalter Celestino
Piatti übertragen, der durch die Gestaltung der dtv-Taschenbücher weit
über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist. Als bibliophile
Kostbarkeit darf die in weißes Rindsleder gebundene Luxusausgabe
angesprochen werden, deren Einbände (vierfarbige Zeichnungen im
Siebdruck) derselbe Künstler geschaffen hat.[4]
Eigene Wege ging das Schweizer Lexikon auch in der Wahl der
Illustrationen. Auf Agenturbilder und ausgelaugte Klischees wurde
weitgehend verzichtet. Neue, meist farbige Aufnahmen aus neuen
Blickwinkeln beleben und unterstützen den Textteil. Die eher kleine
Zahl von 6.000 Abbildungen wurde durch das Einflechten mehrerer
Bilderzyklen (Standesscheiben, Monatsembleme, Stiche usw.) in
anspruchsvoller Manier bereichert. Statistiken, Graphiken und Tabellen
ergänzen, gliedern aber auch längere Texte, und erhöhen den
Informationsgehalt (Immissionswerte, Binnenwanderung, Mineralien). Sie
ersparen zweifellos weitere Recherchen. Auch ein belesener Betrachter
ist von den vielfältigen Zusammenstellungen beeindruckt, denn vieles
ist hier zum ersten Mal zusammengestellt worden.
Die einzelnen Artikel und ihre Präsentation. Ein sehr markanter und
durchaus positiver Aspekt im Vergleich zu anderen Lexika ist die
überaus flüssige Lesbarkeit der einzelnen Artikel, stets in Kenntnis,
daß die Leserschaft niemals Fachexperten, sondern ein Kreis von
Allgemeininteressierten sein wird. "Leichtfüssig und beschwingt" sind
sie schon genannt worden. Einmal wurde auf unübliche Abkürzungen und
einen "alles umfassenden" Satzbau verzichtet. Auch die Schrift ist
gegenüber dem Brockhaus vergrößert worden, und das bei gleicher
Seitendichte. Es macht Freude in den Bänden zu blättern und zu lesen;
wären sie leichter, gäben sie zusätzlich einen ausgezeichneten
Fremdenführer für Ferien in der Schweiz ab.
Die Verwirklichung. 2.500 nebenamtliche Mitarbeiter aus 300
Fachgebieten lieferten die Artikel, die in der Redaktion zu einem
engvernetzten Ganzen überarbeitet wurden. Viele Vorarbeiten, die
Lexikographen längst für gelöst hielten, galten für diese nationale
Enzyklopädie plötzlich nicht mehr. Die Buchstaben A - C z. B.
benötigten mehr Raum als gewohnt (ein Drittel der Tessiner Gemeinden
beginnen mit A, B oder C). Vollständigkeit war für bestimmte Begriffe
Voraussetzung und beengte den Spielraum: Es fehlen keine Bundesräte,
doch schon andere Politiker mußten an bleibenden Taten gemessen
werden. Auch die selbständigen politischen Gemeinden wurden allesamt
berücksichtigt und natürlich sind die kleinen und kleinsten Gemeinden
unverhältnismäßig ausführlich beschrieben. Alle 26 Kantone wurden
großzügig dargestellt und einheitlich gegliedert: Geographie,
Bevölkerung, Staat, Wirtschaft, Verkehr, Kultur, Volkskunde und
schließlich Geschichte. Ein Novum für jeden Ortsartikel ist ein
Abschnitt "Technische Versorgung". So erfährt man die Einführung des
Telegraphen und des Telephons, den Zeitpunkt der Elektrifizierung oder
Geschichtliches zur Gas- und Wasserversorgung. Sicher war es ein
Glücksfall, dazu ein großes privates Archiv entdeckt zu haben, doch
nützte Ziehr die Gelegenheit das versteckte Wissen auf breitester
Front zugänglich zu machen.
Weshalb sich dieses Lexikon nochmals von anderen unterscheidet zeigt
auch ein Längenvergleich von Ortsartikeln. Hat eine Stadt wie Luzern
in anderen deutschen Lexika 15 - 55˙Zeilen, so werden ihr hier
541˙Zeilen zugesprochen. Dem restlichen Kanton Luzern widmen deutsche
Lexika 35 - 100˙Zeilen, das Schweizer Lexikon dagegen rund 930˙Zeilen.
Manch kleinem Ort, der gewöhnlich in vier Zeilen erwähnt wird,
widerfährt hier eine ordentliche Abhandlung über 40 - 50 Zeilen. Damit
wird klar, daß die innere Struktur dieses Werkes nicht den Regeln
eines Universal-Lexikons folgen kann. Das eigene Konzept hat die
Redaktion meisterhaft vollendet.
Kritik. Auch die Herausgeber kennen die Fehler und bestimmt ist es
anderen Erstauflagen ähnlich ergangen. Vielleicht gibt eine zweite
Auflage Gelegenheit das eine oder andere zu verbessern. Vermißt werden
vielleicht die generell fehlenden Ortswappen. Der weiße Seitenrand
hätte wohl dazu eingeladen, doch der Zeitplan sprach vermutlich
dagegen. Die Heraldik kommt aber dennoch in zahlreichen historischen
Abbildungen zum Zuge. Ob der 25%-Anteil an Allgemeinwissen die
Auflagenhöhe zum Guten beeinflußte, wage ich ebenso zu bezweifeln. Nur
geringfügig kann damit ein anderes Lexikon eingespart werden. Daß
Lücken in der Stichwortwahl entstanden sind, bedingt keine weitere
Erklärung. Perfektion verhinderte schon manches Unternehmen. Die
Zeitspanne, die zur Verfügung stand, die möglichen Mittel und der
Einsatz eines entschlossenen Teams haben mehr geleistet als erwartet
werden konnte.
Mario von Moos
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