Ziel des Unternehmens ist es nicht so sehr, dem Benutzer ein
philologisches Arbeitsinstrument in die Hand zu geben oder nur die
mittelalterlichen Texte des Migne elektronisch zu publizieren; die
Herausgeber wollen vielmehr die gedruckten Bände der Migne-Edition so,
wie sie stehen und liegen, mit ihren Titelblättern, Texten, Vorworten,
Fußnoten, Graphiken, griechischen und hebräischen Zitaten gleichsam
photographisch getreu am Bildschirm elektronisch abbilden und
zusätzlich die einzelnen, oben aufgezählten Elemente getrennt suchbar
machen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe wurde daher technisch ein
anderer Weg beschritten als der, den man in Louvain-la-Neuve gewählt
hat. Zwar wurden auch hier die Texte manuell erfaßt, und zwar zweifach
und von verschiedenen Personen. Die zweifach erfaßten Texte wurden
maschinell, aber auch von Hand verglichen und im Fall von Abweichungen
erneut erfaßt oder korrigiert. Einige Stichproben haben gezeigt, daß
die Quote an Schreibfehlern sehr gering ist; typisch sind allerdings
gelegentlich Fehler wie cum statt eum, cuntes statt euntes. Hebräische
Texte und Bilder wurden gescannt und als Bilder abgespeichert. Die
einzelnen Bände der Migne-Edition mit ihren Titelblättern, Texten usw.
wurden vor der Erfassung im einzelnen analysiert und in ihre Elemente,
die jeweils besonders ausgezeichnet wurden, zerlegt und schließlich
SGML-kodiert[1] erfaßt. Dieses Verfahren erlaubt es im vorliegenden Fall
beispielsweise, Bibelzitate, Verse oder griechische Texte zu
kennzeichnen und zu suchen, kursiv oder fett geschriebene sowie
lateinische und griechische Texte, Überschriften und Fußnoten in der
Bildschirmdarstellung sichtbar und sogar suchbar zu machen, falls man
es denn wirklich will oder einmal benötigt.
Die mit dieser Edition verbundenen Zielvorstellungen erforderten eine
andere Software-Lösung als im Falle der CLCLT. Der Wunsch, die
griechischen und hebräischen Texte sowie die Abbildungen des Drucks
darzustellen und dem Benutzer eine mit der Maus bedienbare graphische
Benutzeroberfläche zur Verfügung zu stellen, hat den Hersteller dazu
veranlaßt, die Patrologia latina database als Windows-Anwendung
anzubieten. Daß die wirklichen und nur scheinbaren Vorteile und die
angebliche Bedienungsfreundlichkeit dieser Oberfläche, worüber unten
noch ein Wort zu sagen sein wird, mit erheblichen
Geschwindigkeitsverlusten bei der Recherche in der Datenbank erkauft
werden, ist eine jedem Kenner geläufige Erfahrung, die sich auch hier
wieder bestätigt.
Die hier nur kurz und summarisch beschreibbare Software für die
Datenbank, die von Electronic Book Technologies Inc. und
Chadwyck-Healey Ltd. stammt, wird auf drei 3,5-Zoll-Disketten
mitgeliefert. Die Installation vollzieht sich auch hier bis auf die
notwendigen Laufwerksangaben automatisch. Da die Datenbank sowohl die
Suche nach Texten wie auch nur das Lesen von Werken eines bestimmten
Autors oder eines bestimmten Bandes oder einer bestimmten Spalte eines
Bandes erlaubt, gibt es, sieht man einmal von den für
Windows-Programme üblichen Fenstertiteln, Menu- und Symbolleisten
sowie Statuszeilen ab, keine standardisierte Einheitsoberfläche wie
bei den Dataware-Produkten, sondern eine Reihe von Optionen, das
Programm den individuellen Gegebenheiten des Anwenders anzupassen und
dementsprechend konfiguriert aus Windows heraus zu starten. Die
meisten Nutzer werden sich sicherlich für eine der beiden
Hauptmöglichkeiten, nämlich den Volltext-Modus oder den Such-Modus,
entscheiden, wobei es dank der Fenstertechnik von Windows auch nach
dem Start des Programms durch Mausklick möglich ist, die jeweils
anderen Möglichkeiten zu aktivieren, sofern sich der Anwender im
Umgang mit der Maus und mit der Interpretation der aller
Windows-Software eigenen Bilderrätsel sowie mit den Ein- und
Ausschaltsymbolen für die Fenster nicht zu schwer tut. Im Gegensatz
also zur CLCLT setzen die komplexen Angebote dieser Software einen
recht erfahrenen PC-Benutzer voraus, um auch relativ einfache Dinge in
angemessener Zeit realisieren zu können. Hat sich der Benutzer für den
Such-Modus als Startoption entschieden, so empfängt ihn das Programm
nach dem Start mit einer Suchmaske, die in vorgegebener fester
logischer Beziehung die Felder Keyword, Greek Keyword, Title Keyword,
Document Author und Volume sowie eine Reihe zusätzlicher Optionen
aufweist. Für alle Felder kann der jeweilige Index aufgerufen und der
Suchbegriff durch Tastendruck oder Mausklick übernommen werden. Es
gibt einige wenige, im Handbuch dokumentierte Stopwörter. Die
Abfragesprache läßt die Bool'schen Operatoren UND, ODER, NICHT, die
Nutzung von Kontextoperatoren (Wortabstand; Wortabstand mit
vorgegebener Wortfolge) in umständlicher und eigenwilliger Syntax,
Separatoren sowie variable und feste Außen- und Innentrunkierung der
Suchbegriffe zu. Die Fundstellen werden in einander gegenüberliegenden
Fenstern in der Weise angezeigt, daß auf der einen Seite das dem
gefundenen Werk zugehörige Inhaltsverzeichnis, auf der anderen Seite
der Volltext desselben Werkes sichtbar ist. Über Mausklick kann man
dann von Fenster zu Fenster, im linken Fenster von Titel zu Titel, im
rechten von Belegstelle zu Belegstelle oder von Werk zu Werk eines
Bandes springen, die Fußnoten aufrufen, die Fenster sowie die Schrift
vergrößern oder verkleinern, Texte oder graphische Elemente der
Vorlage ausdrucken oder speichern und schließlich eine neue Suche
beginnen. Die Software enthält über die beschriebene Standard-Suche
hinaus die Möglichkeit, mit Hilfe der SGML-Kodierungen in einer
sogenannten Command Line Search jeden Text in jedem beliebigen
Datenelement, bestimmte Datenelemente wie Fußnoten oder gewisse
Attribute wie griechische Texte oder Verse, die bei der Datenerfassung
besonders gekennzeichnet wurden, zu suchen. Allerdings scheint die
Abfragesprache für diesen Such-Modus noch nicht völlig ausgereift zu
sein; denn einige der im Handbuch angegebenen Beispiele führen in der
Command Line Search zu keinem Resultat, obwohl die gleiche Abfrage im
Standard-Suchmodus das Gesuchte durchaus findet.
Das Ausdrucken oder Speichern einer Fundstelle ist in der Patrologia
latina database allerdings in indiskutabler Weise gelöst; denn der
auszudruckende oder zu speichernde Textabschnitt - übrigens mit oder
ohne die SGML-Kodierung - muß als Block markiert und über die
Windows-Zwischenablage in eine andere Windows-Anwendung, z.B. Write,
geladen werden, um zum Drucker oder auf die Festplatte zu gelangen.
Dies verlangt je nach Konfiguration unter Umständen fast zwanzig
Arbeitsschritte - und das Ergebnis enthält dann immer noch keine
Angabe der Fundstelle (Autor, Titel, Band), die man sich entweder mit
einem Stift auf dem Ausdruck notieren oder in der Textverarbeitung
mühselig aus der Erinnerung selbst schreiben muß. Übrigens fehlen auch
bei der begrüßenswerten Möglichkeit des Programms, ohne größere
Urheberrechtsprobleme ganze Kapitel oder Werke aus dem
Inhaltsverzeichnis heraus zu drucken oder abzuspeichern, alle Angaben
zur Fundstelle. Doch die Software enthält noch andere Fallen. So muß
man beispielsweise wissen, daß sich in der Standardsuche mit dem
Bool'schen Operator UND verbundene Abfragen nicht etwa auf einen Satz
oder einen Paragraphen (meist ein Absatz in der gedruckten Version),
sondern auf ein sogenanntes Dokument beziehen, zumeist ein ganzes
Werk, das aber auch schon einmal den Umfang eines ganzen Bandes
überschreiten kann. Wer also eine spezifische Textstelle sucht, wie es
beispielsweise in der Kodikologie bei der Identifizierung von
Handschriften-Fragmenten nötig ist, ist gut beraten, seine Abfragen
mit Kontextoperatoren zu formulieren. Die Standard-Suche erlaubt die
Option, den Umfang der Suche genau zu definieren, so daß sie auf alle
Autoren ausgedehnt oder auf die mittelalterlichen oder auf die
modernen Autoren allein eingeschränkt werden kann. Der Anwender
allerdings, der im Vertrauen auf seine mediävistischen Kenntnisse
seine Suche auf die mittelalterlichen Autoren einschränkt, da der zu
suchende Text unzweifelhaft frühmittelalterlichen Ursprungs ist und,
wie sich dann später herausstellt, aus dem Ordo Romanus VIII (PL 78,
c. 999 = Andrieu, Ordines Romani Nr. 34) stammt, wird nicht fündig
werden. Die Lösung bringt ein Blick in die SGML-Kodierung des Werkes.
Wie sie zeigt, hat dieser Text das Attribut tempstat=uncert erhalten,
so daß er bei einer Sucheinschränkung auf mittelalterliche oder
moderne Autoren durch das Raster fällt. Hinweise auf Fallen dieser Art
enthält das übrigens nur in englischer Sprache vorliegende, im
allgemeinen recht informative Handbuch nicht. Man kann nur hoffen, daß
die hier aufgezeigten Unzulänglichkeiten bis zur Endfassung der
CD-ROM-Edition im November 1995 behoben sein werden.
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