In dieser Tradition sieht sich das jetzt mit dem ersten Band
vorliegende neue ungarische Großlexikon. Als es nach 1945 darum ging,
in Übereinstimmung mit dem Wechsel des gesellschaftlichen Regimes auch
die Lexikonarbeit auf neue ideologische Grundlagen zu stellen, hatte
man 1954 beim Akademieverlag - Organ der Akademie - eine
Lexikonredaktion gegründet, die fortan unter Einbezug einer Vielzahl
von Akademiemitgliedern und -mitarbeitern eine umfangreiche
Lexikonarbeit leistete, vor allem auf dem Gebiet der Fachlexika, die
auch heute noch anerkannt wird. Das zwischen 1959 und 1962
herausgebrachte Uj magyar lexikon [Neues ungarisches Lexikon] in 7
Bänden mit 40.000˙Lemmata erhob den Anspruch, das erste auf
marxistisch-leninistischer Grundlage zu sein, und hat schon seinerzeit
wegen seiner unzulänglichen Faktenvermittlung Kritik ausgelöst. Zwar
war bereits für Ende der 7Oer Jahre ein neues Großlexikon angekündigt
worden, aber Querelen ("Ereiferungen, wütender Streit,
Steine-in-den-Weglegen, Fehlschläge" - lt. Vorwort des
Akademie-Präsidenten im jetzt begonnenen Lexikon) der
unterschiedlichsten Art verschoben die Realisierung bis in Ungarns
Nachwendezeit. Wie bereits zu Zeiten des oben erwähnten ersten
Konversationslexikonstreits entzündete sich die Diskussion an der
Frage, ob es für eine kleine Nation ausreiche, ausländische Lexika
einfach zu übersetzen, ggf. zu adaptieren, oder ob eine
Eigenerarbeitung vorgelegt werden müsse. Die Befürworter der
nationalen Alternative konnten den Streit für sich entscheiden mit dem
Argument, daß ein solches Werk ausdrücklich für das es nutzende Volk
unter Berücksichtigung seiner Traditionen erstellt werden müsse, wie
auch beim Pallas-Lexikon und beim Révai-Lexikon geschehen. Der Bedarf
des Bildungsbürgers an zeitgemäßem Wissen war die
Orientierungsgrundlage. Nach Distanzierung von der Gängelung der
Akademie und ihrer Organe von einem zentralistisch geleiteten und
ideologisch überwachten Staat nahm die speziell mit dem Vorantreiben
eines Universallexikons beauftragte Redaktion mit einer Mannschaft von
rund anderthalb tausend Autoren die völlige Neuerarbeitung in Angriff
und wies es von sich, wie im Vorwort betont wird, lediglich ein
Zusammenführung des Lemmabestandes der in den letzten Jahrzehnten
erschienenen Fachlexika vorzunehmen. Daß man diese allerdings nicht
beseite ließ, läßt ein Vergleich mit dem wohl wegen seines spezifisch
ungarischen Gegenstandes auch im Ausland genutzten Magyar irodalmi
lexikon [Ungarisches Literaturlexikon] 1963 - 1965 in 3 Bänden
erkennen, dessen Artikel in den geprüften Alphabetausschnitten vor
allem für unbekanntere Autoren nahezu vollständig und fast unverändert
übernommen wurden, was nur für dieses vor allem für die ältere
ungarische Literatur zuverlässige Lexikon spricht. Dazu muß bemerkt
werden, wie es auch die Redaktion in ihrem Vorwort - im Gegensatz zur
ungenauen Aussage des Akademiepräsidenten in seiner Einführung, der es
völlig als Produkt der Wende bezeichnet - getan hat, daß nämlich das
Lexikonvorhaben bereits 1987 mit der Bildung eines Redaktionskomitees
energisch in Angriff genommen worden war, so daß 1990 die
Stichwortlisten der Fachredakteure vorlagen. Die gesellschaftlichen
Veränderungen bewirkten dann eine zusätzliche Modifizierung des
Redaktionskonzepts, d.h. Konzentrierung auf die Aufgabe des Lexikons
als Faktenspeicher und Unparteilichkeit der Darstellung. Danach setzte
nach Veränderung der Redaktionsstrukturen und Schaffung neuer
technischer Voraussetzungen die Materialsammlung, Koordinierung,
Redaktion, Vereinheitlichung usw. ein, so daß 1993 der erste Band des
auf 150 - 160.000˙Lemmata - die Anzahl ist nicht angegeben - geplanten
Lexikons vorgelegt werden konnte.[4] Es erhebt Anspruch auf eine
universelle Widerspiegelung des Wissens, betont aber gleichzeitig den
Verlauf der ungarischen Geschichte und die gegenwärtigen nationalen
Belange. Darin dürfte auch der Hauptwert für ausländische Bibliotheken
liegen. Schon im ersten Band fällt die große Zahl der geographischen
Artikel, speziell auch zu kleinen ungarischen Ortschaften, darunter
solchen in ehemals ungarischen Gebieten, auf.[5] Die Angabe der
deutschen, rumänischen, slowakischen oder slowenischen Ortsnamen und
Verweisung von diesen - jedenfalls ist das an den wenigen bisher
nachprüfbaren Namen zu erkennen - untermauern diese Aussage. Eine
ähnliche Fundgrube dürfte das Lexikon auch für Personennamen werden.
Autorenartikel haben einen bibliographischen Anhang (unter F.M. =
Hauptwerke). Bei Künstlern sind teilweise die Standorte ihrer Werke
angegeben (dort Anhänge vielfach mit T.M. = weitere Werke). Auch
größere Artikel haben vielfach Literaturanhänge mit
Grundlagenliteratur. Das Lexikon ist zweispaltig gesetzt. Graphische
Darstellungen, Tabellen, Schwarz-Weiß- und Mehrfarbenabbildungen sind
in den Text je nach Bedarf integriert. Nur farbige Karten nehmen ganze
Seiten ein. Das im Mehrfarben-Offset-Druck hergestellte Lexikon
erfüllt die an ein modernes Großlexikon zu stellenden Kriterien. Ob
die Einstellung in eine deutsche wissenschaftliche Allgemeinbibliothek
erforderlich ist, muß aufgrund der Sprachbarriere vom
Benutzerpotential her entschieden werden, kann aber empfohlen werden.
Erika Tröger
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