Wer war dieser Charlie Parker, wie war sein musikalischer Werdegang
und wie ist die umfangreiche Literatur über den bedeutendsten Musiker
des modernen Jazz zu bewerten? Thomas Hirschmann hat sich dieser
Aufgaben im Rahmen einer Dissertation gewidmet, die nun als
Buchhandelsausgabe erschienen ist. Im Kapitel Das Quellenmaterial zu
Leben und Werk untersucht Hirschmann das musikalische Werk: Ton- und
Tonfilmmaterial der Musik Parkers sowie Handschriften, Briefe,
Photographien, amtliche Urkunden und andere Dokumente, erhaltene
Gespräche und Interviews; ein Exkurs zur Problematik des
Quellenbestandes in zwei Publikationen[2] führt sehr lebendig vor Augen,
wie fahrlässig mit Quellenmaterial umgegangen wurde. Vieles erscheint
jetzt in einem neuen Licht. Die Parker-Rezeption in der Fach- und
Tagespresse zur Zeit von Parkers Wirken schließt das Kapitel ab.
Parker in der Sekundärliteratur untersucht Veröffentlichungen aus dem
jazz-journalistischen Bereich, aus dem wissenschaftlichen Bereich,
Diskographien und Bibliographien sowie Transkriptionen von Parkers
Musik. Im Kapitel Zur Biographie Parkers werden Quellenzitate aus den
einzelnen Lebensabschnitten aufgeführt. Das Resümee faßt die
wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammen. Ein Anhang enthält eine
Chronologie der von Parker erhalten gebliebenen Ersteinspielungen und
späteren Versionen seiner Bebopstücke.
Hirschmann hat mit seinem Buch eine hervorragend konzipierte und gut
lesbare, kritische Biographie vorgelegt, die zahlreiche Originalzitate
mit genauer Quellenangabe enthält, die den Zusammenhang zu den
Textpassagen herstellen und ihn vertiefen. Selten ist ein so stark
bibliographisch orientiertes Werk so lesbar geschrieben worden wie im
vorliegenden Fall. Wie in einem Kriminalroman werden sehr spannend die
Zusammenhänge detektivisch aufgedeckt, Fälscher Fälscher genannt,
Manipulationen Manipulationen, Abschreiber Abschreiber. Zugleich
erfährt man so viel Neues und Interessantes aus dem Leben Parkers wie
sonst nur in ausschweifenden, und dann vielleicht doch nicht so
exakten Biographien. In der Jazzliteratur tummeln sich nach wie vor
Liebhaber, Journalisten, Angeber und Mystifizierer. Wie wohltuend ist
dann ein solches Buch, dem man trotz (oder wegen) seiner
wissenschaftlichen Gründlichkeit viele Leser wünschen muß. Wer so
exakt forschen und dann auch noch flüssig schreiben kann, sollte sich
weiterhin auf diesem Gebiet betätigen. Man wünscht sich jetzt ein
solches Buch über Louis Armstrong, Miles Davis, John Coltrane und
Frank Zappa.
Hirschmann berücksichtigt bibliographische Quellen bis zum Jahr 1989,
weshalb die neue Charlie Parker discography von Bregman/Bukowski/Saks
von 1993 noch nicht verzeichnet ist, sondern lediglich ihr 1989 als
Privatdruck erschienener Vorgänger.[3] Dank der Diskographie von
Koster/Bakker konnte "die vorliegende Untersuchung ... von relativ
gesicherten diskographischen Grundlagen aus durchgeführt werden" (S.
81). Dieses Urteil entschädigt etwas über die sonst teilweise
erschütternden Erkenntnisse von Hirschmann über die Qualität der
Jazzliteratur.
Die neue Ausgabe der Charlie Parker discography von 1993 enthält die
derzeit vollständigste Liste aller Parker-Einspielungen. Mit wenigen
Ausnahmen wurden alle Sessions und Privatmitschnitte verifiziert und
in 219 Eintragungen dokumentiert, jeweils mit Besetzung (Musiker und
Instrumente), Aufnahmeort und -datum, aufgenommene Titel und
Labelnummer bei Veröffentlichungen (letzteres leider sehr
unvollständig). Auch diese Diskographie bedient sich also der
mittlerweile beliebten Verfahrensweise, von Einspielungen auszugehen
und nicht von Tonträgern (vgl. IFB 94-2-299 - 300).[4] Die Zuordnung von
Schallplatten und CDs ist damit fast unmöglich, aber das musikalische
Schaffen Parkers ist in diesem Bändchen auf 77 Seiten gut
dokumentiert. Es folgen Register der Musiker und der Titel. Die
Aufmachung des dünnen Heftchens erweckt allerdings das Gefühl, daß die
große, definitive und der Bedeutung Parkers angemessene Diskographie
noch erscheinen muß.
Charlie Parker wäre in diesem Jahr 75 geworden; der Jazz ist nur wenig
älter. Allen, die sich heutzutage ernsthaft und wissenschaftlich mit
dem Jazz befassen, fällt es schwer, zuverlässige Quellen aufzutun.
Jazzgeschichte ist immer noch weitgehend oral history, wobei mit jeder
Tradierung etwas eigenes hinzugetan wird. Die Hauptursache dafür, daß
die Wissenschaft sich schwertut, liegt daran, daß sie lange Zeit den
Jazz nicht ernst genommen hat und auch heute noch nicht in dem Maß
ernst nimmt, wie es erforderlich wäre. Wer ein Gebiet wie den Jazz und
auch die populäre Musik dem Journalismus, der Industrie und den Fans
überläßt, braucht sich nicht zu wundern, daß nach 50 Jahren kaum etwas
Zuverlässiges, nur Geschöntes herausgekommen ist.
Bernhard Hefele
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