1. Der italienische Beitrag seit De Sanctis (1870)
Italien ist eines der Länder, das eine fast schon als inflationär zu
bezeichnende Produktion an Geschichten seiner Nationalliteratur zu
verzeichnen hat.[1] Dies hängt sicherlich zum Teil mit den Spezifika des
italienischen Unterrichtswesens zusammen, in dem die Vermittlung
literarhistorischer Kenntnisse eine große Rolle spielt und das von den
Studierenden in stärkerem Maße als in Deutschland abrufbares
Faktenwissen fordert. Eine Rolle spielt ebenso, daß in der
"verspäteten Nation" Italien gerade die Literaturgeschichtsschreibung
das Medium der kulturellen Selbstvergewisserung war. Exemplarisch
zeigt sich dies an Francesco De Sanctis' Storia della letteratura
italiana,[2] dem Hauptwerk der risorgimentalen
Literaturgeschichtsschreibung. Benedetto Croce, einer der wichtigsten
Protagonisten des modernen intellektuellen Italien, hat mit seinem
Verdikt organischer und teleologischer Historiographie[3] eine
Traditionslinie begründet, die Literaturgeschichte ausschließlich als
storia della critica, d.h. als Geschichte der verschiedenen
Interpretationen und literaturwissenschaftlichen Bemühungen um einen
Text versteht: Eine Vielzahl von Geschichten der Kritik entsteht im
Gefolge und bis zum heutigen Tag wirkt sein Konzept in zahlreichen
rezeptionsgeschichtlichen Kompendien[4] nach. Eine der wichtigsten
anthologischen literaturgeschichtlich-kritischen Publikationen ist die
von Cesarani und De Federicis herausgegebene Anthologie Il materiale e
l'immaginario,[5] die zentrale literaturtheoretische und -kritische
Texte sowie Auszüge der wichtigsten kanonischen Werke der
italienischen Literatur zusammenstellt. In der Praxis hat sich das
Konzept bei der inzwischen 66 Bände umfassenden Letteratura italiana
Laterza[6] bewährt: Sie umfaßt nicht allein den Epochen und Strömungen
gewidmete Bände, sondern auch solche, die Gattungen und Autoren mit
Primärtexten und Auszügen aus der Sekundärliteratur vorstellen. Die
Anthologie hat generell einen großen Stellenwert im italienischen
Wissenschaftsbetrieb. Allerdings beschränken sich Literaturgeschichten
des 20. Jahrhunderts keineswegs darauf - im Gegenteil: alle wichtigen
methodischen Paradigmen der letzten vierzig Jahre haben ihren
Niederschlag in Literaturgeschichten gefunden, sei es die
idealistische Literaturbetrachtung[7] oder der Marxismus.[8] Als das
marxistische Konzept von strukturalistisch inspirierten bzw. von
solchen abgelöst wurde, die im weitesten Sinn sozio-semiotisch
fundiert sind, gewannen methodenpluralistisch orientierte
Darstellungen an Bedeutung. Ein Standardwerk italianistischer
Forschung ist und bleibt die von Spezialisten der jeweiligen Epochen
verfaßte und von Cecchi und Sapegno koordinierte Storia della
letteratura italiana.[9] Sie wird in ihrer Bedeutung als ausgewogene
Forschungsliteraturgeschichte, als Klassiker, der den Forschungsstand
bis zum Ende der sechziger Jahre dokumentiert, durch viele
Literaturgeschichten aus der Feder einzelner Autoren, die den Markt
überschwemmen, nicht bedroht. Trotz der Bedenken, die Theoretiker und
Kritiker gegen monoperspektivische und "ganzheitliche" sowie
umfassende Darstellungen vielfach vorgetragen haben, scheint es zur
Forscher-Vita italienischer Italianisten zu gehören, ihre eigene
Geschichte der italienischen Literatur zu verfassen.
Mangel an Vielfalt herrscht also nicht, ebensowenig an Initiativen des
italienischen Verlagswesens: in bester Tradition preiswerter
"Volksausgaben" sind De Sanctis' Klassiker[10] und Giacinto Spagnolettis
informative Storia della letteratura italiana del Novecento[11] für
umgerechnet weniger als zehn Mark zu haben.
Von gänzlich anderem Zuschnitt und Ehrgeiz ist dagegen das
Großprojekt, das der Turiner Einaudi-Verlag in den achtziger Jahren
begonnen hat: In der mehrbändigen Letteratura italiana[12] legt ein Team
von ca. hundert Spezialisten, die Alberto Asor Rosa seinem
anspruchsvollen Konzept eines mentalitätengeschichtlich,
anthropologisch und semiotisch fundierten Methodenpluralismus'
verpflichten konnte, eine neue und provozierende Lesart der
italienischen Literatur vor: Es bedeutet den Abschied vom unitarischen
Paradigma De Sanctis' und stellt diesem den Entwurf einer Vielzahl von
Geschichten der Literaturen entgegen, die in den einzelnen Regionen
des Landes entstanden sind. Den - in Anlehnung an Carlo Dionisottis
Konzept[13] ausgeführten - 'eigentlich' literarhistorischen Bänden[14] geht
eine "Enzyklopädie" voraus: Themen, Strukturen, Paradigmen
literarischer Entwicklung in Italien werden ebenso wie das Arsenal
literaturwissenschaftlicher Fragen und literaturtheoretischer Entwürfe
dieses Jahrhunderts auf hohem Niveau dargestellt.[15] Zwei wichtige
bio-bibliographische Bände[16] sowie weitere, die monographische Beiträge
zu den wichtigsten Autoren[17] enthalten, ergänzen das Projekt.
Im Unterschied zu dieser höchst komplexen und - auch im Hinblick auf
die Lesbarkeit der einzelnen Beiträge - sehr anspruchsvollen
Forschungsliteraturgeschichte ist Giulio Ferronis vierbändige,
ebenfalls bei Einaudi erschienene Storia della letteratura italiana[18]
auch für ein schulisches und studentisches Publikum gedacht. Ferroni
ist nicht allein ein ausgewiesener Kenner der italienischen Literatur,
seine Darstellung ist zugleich methodologisch reflektiert und
didaktisch hervorragend aufgearbeitet. Von einer dadurch bedingten
Reduktion der Komplexität kann - was nicht so oft der Fall ist - nicht
gesprochen werden. Im Anschluß an die Einleitung zu dem nach Epochen
gegliederten Gesamtwerk, in dem Ferroni die Prämissen seiner
Darstellung offenlegt, erläutert er im Abschnitt Termini di base nicht
allein grundlegende literaturwissenschaftliche Termini, er stellt
ebenso wichtige Parameter italienischer Literaturentwicklung dar (z.B.
tradizione/innovazione, estetica, imitazione/mimesi, diegesi, poetica,
mito/archetipo u.v.m.). Randglossen, schematische Darstellungen (etwa
zum Aufbau des Decameron oder des Orlando furioso) sowie durch
Kästchen hervorgehobene wichtige Informationen zu Strömungen, Autoren
und anderen wichtigen Fragen machen Ferronis Literaturgeschichte zu
einem Werk, das auch für studentische Prüfungsvorbereitungen bestens
geeignet ist. Bibliographische Angaben sowie Indizes, die neben Namen
auch die termini notevoli verzeichnen, ergänzen die Bände. Wie Asor
Rosa geht auch Ferroni von einem reflektierten Methodenpluralismus
aus, dessen Grundlagen einerseits kommunikationstheoretische Ansätze
und andererseits ein mentalitätengeschichtlich-anthropologischer
Zugang sind. Die Strukturierung des literaturgeschichtlichen Diskurses
durch Jahrhunderte lehnt er als zu starr ab und untergliedert seine
Darstellung in zwölf Epochen, sezioni di lunga durata, die sich
allerdings vom herkömmlichen Epochenraster absetzen, indem sie auf
sozial- und mentalitätengeschichtliche Zäsuren Bezug nehmen. Auf
dieser historischen Folie werden dann die wesentlichen gattungs- und
formengeschichtlichen Phänomene dargestellt, die wichtigsten Autoren
und Werke behandelt. Die Werkkapitel sind umfangreich genug, um neben
Information auch Interpretation bieten zu können. Im Vergleich zu
Giuseppe Petronios Attivit… letteraria in Italia[19] ist der informative
und kritische Gehalt von Ferronis Darstellung höher. Der Charakter von
Petronios Darstellung als Standardwerk wird dadurch allerdings nicht
in Frage gestellt: Als später Nachfahre des
Literaturgeschichtskonzepts von De Sanctis ist Petronios Attivit… ...
ein klassisches Beispiel erzählender Historiographie, konsequent dem
Postulat einer sozialgeschichtlichen Lektüre italienischer Literatur
verpflichtet.
2. Der deutsche Beitrag vom 18. Jahrhundert bis in die siebziger
Jahre des 20. Jahrhunderts
Von dieser - nur sehr skizzenhaft gezeichneten - Entwicklung der
Literaturgeschichtsschreibung in Italien gilt es die deutsche
Tradition[20] abzusetzen; zugleich sollen aber auch die vielfältigen
Berührungspunkte aufgezeigt werden. Die Tatsache, daß die italienische
Literatur vom späten 19. Jahrhundert bis in die jüngste Zeit kaum in
deutschsprachigen Literaturgeschichten dargestellt wurde, ist weniger
den eingangs erwähnten wissenschaftsinternen Gründen zuzuschreiben;
wichtiger scheinen mir institutionelle. Die deutschsprachige
Italianistik wird erst in den letzten Jahren in der Bundesrepublik mit
Nachdruck ausgebaut, und erst mit der wachsenden Zahl von Studierenden
italienischer Literatur, deren sprachliche Kompetenzen zu Beginn des
Studiums in vielen Fällen eher gering sind, steigt die Zahl
potentieller Leser deutschsprachiger Geschichten italienischer
Literatur. Deutsche Verlage und Bibliotheken müssen auf die
Bedürfnisse dieser neuen Leser reagieren - und sie tun es.
Die literaturgeschichtlichen Traditionen Italiens und Deutschlands
sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen: Vom 18. Jahrhundert
an, dem Zeitpunkt, als die Literaturgeschichte als eigenständige
Disziplin im europäischen Wissenschaftskontext entsteht, werden hüben
wie drüben Literaturgeschichten übersetzerisch rezipiert. Dies gilt
beispielsweise für die Storia della letteratura italiana des gelehrten
Modenser Bibliothekars Girolamo Tiraboschi,[21] die bedeutendste
Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts: wenige Jahre nach ihrem
Erscheinen wurde sie von Christian Joseph Jagemann auszugsweise ins
Deutsche übersetzt.[22] Damit wurde nicht allein der Text der
italienischen Darstellung (in verkürzter Form) in Deutschland bekannt;
auch die spezifisch italienische Sicht wurde übertragen. Von
wechselseitiger italienisch-deutscher Rezeption in Sachen
Literaturgeschichte kann auch für die Standardwerke der deutschen
Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gesprochen werden.
Die Arbeiten der Gebrüder Schlegel,[23] des Göttinger Gelehrten
Bouterwek,[24] des Schweizer Kosmopoliten Sismonde de Sismondi[25] sind die
wichtigsten Zeugnisse des Paradigmenwandels in der deutschen und
europäischen Italienwahrnehmung: erstmals werden beispielsweise die
Werke der sog. tre corone (Dante, Petrarca, Boccaccio) hauptsächlich
aufgrund ihrer poetischen Qualitäten wahrgenommen. Die Bedeutung der
deutschsprachigen Historiographie der Romantik auch für die Geschichte
der italienischen Wissenschaftstradition wird in entsprechenden
italienischen Darstellungen[26] immer wieder unterstrichen. Besonders
lebhafte Kontakte zwischen Italien und Deutschland finden sich im
Umfeld des Idealismus, und sie schlagen sich auch in der
literaturgeschichtlichen Tradition nieder: Kein geringerer als De
Sanctis übersetzt das Handbuch einer allgemeinen Geschichte der Poesie
seines deutschen Schülers Karl Rosenkranz[27] ins Italienische. Der
Deutsche Adolph Gaspary, Verfasser der Geschichte der italienischen
Literatur,[28] war gleichfalls Schüler des Neapolitaner Gelehrten; auch
seine Darstellung wurde ins Italienische übersetzt. Ein
deutsch-italienisches Autorenteam, Berthold Wiese und Erasmo PŠrcopo,
stellte seine Geschichte der italienischen Literatur von den ältesten
Zeiten bis zur Gegenwart[29] expressis verbis in den Dienst der
deutsch-italienischen Kulturbeziehungen.
Karl Vosslers Italienische Literaturgeschichte[30] ist ebenfalls im
Geiste des Idealismus verfaßt. Mit den zahlreichen Auflagen, die sie
zwischen 1900 und 1948 erfuhr, hat sie wohl das Verständnis
italienischer Literatur besonders im deutschen Bildungsbürgertum - bis
zum heutigen Tag werden deren Nachfahren als potentielle Leser von
Verfassern und Herausgebern italienischer Literaturgeschichten
angesprochen - nachhaltig geprägt. Mit den vierziger Jahren, in denen
nicht nur die erste vollständige Übersetzung von De Sanctis'
Literaturgeschichte[31] (1941), sondern auch mit Rudolf Palgens
Geschichte der italienischen Literatur[32] (1949) eine späte
chauvinistisch inspirierte Darstellung erschien, bricht die deutsche
Tradition bis in die siebziger Jahre ab. Sie wurde wieder aufgenommen
mit der (schlechten) Übersetzung von Giovanni Carsanigas, ursprünglich
in englischer Sprache verfaßter Geschichte der italienischen
Literatur,[33] die mittlerweile als veraltet gelten kann. Heinz Willi
Wittschiers Die italienische Literatur[34] (1977) ist hauptsächlich wegen
des umfangreichen bibliographischen Anhangs, dem eine Aktualisierung
gut anstünde, ein heute noch viel konsultiertes Werk. Der
literaturgeschichtliche Abriß selbst kann aufgrund vieler Verzerrungen
und einer zu sehr vereinfachenden Darstellung keinem Studierenden mehr
empfohlen werden.
3. Drei neue Geschichten der italienischen Literatur auf dem
deutschen Buchmarkt
Erst mit dem erwähnten Ausbau der deutschen Italianistik entstehen
seit dem Ende der achtziger Jahre wichtige Gesamtdarstellungen
italienischer Literatur: Der Tübinger Francke-Verlag begann 1992 mit
der Herausgabe der Übersetzung von Giuseppe Petronios Attivit…
letteraria in Italia, die 1993 abgeschlossen vorlag; der
Metzler-Verlag folgte im selben Jahr 1992 mit der von Volker Kapp
herausgegebenen Italienischen Literaturgeschichte, von der 1994 eine
nur minimal verbesserte 2. Aufl. erschien; und Anfang 1995 erschien
schließlich im Beck-Verlag Johannes Hösles Kleine Geschichte der
italienischen Literatur. Diese drei Darstellungen sollen im folgenden
vergleichend betrachtet werden.
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