Ute Schneider hat freilich nicht die von Bernhard Fabian im Jubiläumsjahr als Desiderat angemahnte, neu zu schreibende, innere und äußere Geschichte der ADB in Angriff genommen. Ihre Studie ist vielmehr auf die Funktion und den Status der Zeitschrift als "Informationsmedium der deutschen Gelehrtenrepublik in der Spätaufklärung" ausgerichtet (S. 8). Damit rücken die inhaltlichen Qualitäten der Rezensionen und die Informationsleistung der Zeitschrift ins Zentrum der Analyse. Anhand klug ausgewählter Fallbeispiele vermag die Verfasserin nachzuzeichnen, in welcher Form und mit welchen argumentativen Strategien die akademischen Rezensenten ihre gelehrten Leser über Forschungsstand, Fehlentwicklungen oder neue Konzepte ihrer Fachdisziplinen aufzuklären suchten. Mit dem Rückgriff auf bisher unpublizierte Briefwechsel zwischen Nicolai und den Rezensenten gelingt es ihr überdies, die inneren und äußeren Faktoren zu benennen, die auf die Kommunikation zwischen Autor, Rezensent, Verleger und Leser fördernd, hemmend oder störend eingewirkt haben. Aus gutem Grund hat Ute Schneider ihr Beobachtungsfeld auf die beiden ersten Jahrzehnte der ADB eingeschränkt: Mit dem Jahr 1783, in dem die enorm hohe Auflage der Zeitschrift erstmals von 2500 auf 2200 Exemplare gekürzt wird, ist der Wendepunkt erreicht, an dem der allmähliche Niedergang der ADB einsetzt, der sich später durch den zensurbedingten Verkauf des Unternehmens an den organisatorisch überforderten Hamburger Buchhändler Carl Ernst Bohn, die von Nicolai angezettelten literarischen Fehden und die Lähmung des Buchhandels in den Wirren der Koalitionskriege beschleunigt.
In dem vielzitierten frühen Exposé für den ersten Mitarbeiterkreis der ADB[2] verordnete Nicolai seinen Rezensenten klare Normen, deren Einhaltung er in den späteren gedruckten Zirkularen stets nachdrücklich anmahnte. Die Urteile der Rezensenten sollten "nicht bloß algemein und schmeichlerisch sondern vielmehr gründlich und freymüthig" sein. Eine "ängstliche Erzählung des Inhalts" sei nicht akzeptabel, und "Streitigkeiten" seien "so viel nur immer möglich" zu vermeiden. Die Anonymisierung der durchweg chiffrierten Besprechungen sollte den Verfasser schützen und ihn gleichzeitig zur Objektivität anspornen.
Nicolais großer Zeitschriftenplan war von einem kulturpolitischen Impetus geprägt, der durchaus nationale Züge trug. In Anlehnung an das Londoner Vorbild der Monthly review sollte die ADB, so die Formulierung im erwähnten Exposé "Nachrichten von allen neuen in Deutschland herauskommenden Büchern geben". Lediglich die ephemeren Kleinschriften blieben unberücksichtigt, um "zu nüzlichen Sachen den Raum zu sparen". Nicolai ging davon aus, daß ein Jahresumfang von achtzig Oktavbogen ausreichen werde, um 70 bis 89 "ordentliche", d.h. ausführliche Rezensionen unterzubringen und die weniger wichtigen Titel in Kurzanzeigen darzubieten. Wie kaum anders zu erwarten, waren unter den von ihm angeworbenen Mitarbeitern neben fleißigen Autoren auch säumige und unzuverlässige Rezensenten, die selbst auf leidenschaftliche Appelle des Herausgebers nicht reagierten. Schon mit dem zweiten Jahrgang der ADB konnte der Anspruch der Aktualität nicht mehr eingelöst werden.
Nach der Trennung des norddeutschen vom sogenannten Reichsbuchhandel hatte Nicolai, wie Ute Schneider eingehend darlegt, zudem große Mühe, Rezensionsexemplare aus Verlagen in den südlichen Territorien des Reichs zu besorgen. Die süddeutsche gelehrte Fachliteratur blieb in der ADB auf Dauer unterrepräsentiert, und dementsprechend verharrte auch die Verbreitung der Zeitschrift in diesem Raum auf einem niedrigen Niveau. Mit dem dramatischen Anstieg der deutschen Buchproduktion öffnete sich die Schere zwischen den Neuerscheinungen und der Aufnahmekapazität der ADB. Es half wenig, die Zahl der "ordentlichen" Rezensionen zugunsten der Kurzanzeigen zu reduzieren, zumal dies auch die Qualität der Berichterstattung minderte. Nicolais Versuch, durch mehrjährig kumulierte Supplemente ("Anhänge") dem Ziel einer relativen Vollständigkeit näherzukommen, erzeugte bei den Beziehern der ADB ein geteiltes Echo. Die akute Bedrohung der Zeitschrift durch das 1785 in Jena etablierte Konkurrenzunternehmen der Allgemeinen Literaturzeitung (ALZ) zwang ihn schließlich, einen anderen Weg einzuschlagen. Binnen kurzer Frist wurde die Zahl der jährlich erscheinenden Bände verdoppelt, was freilich dem fächerübergreifenden Organ den notorischen Titel einer "Rezensierfabrik" einbrachte.
Die ALZ war keine Zeitschrift, wie Ute Schneider hartnäckig behauptet, sondern eine an allen sechs Werktagen der Woche im Umfang von ein bis zwei Quartbogen erscheinende Zeitung, die je nach bevorzugtem Lesetempo posttäglich, wöchentlich oder monatlich bezogen werden konnte. Hinsichtlich der Aktualität der Information und der Vollständigkeit der Berichterstattung war die ALZ von Beginn an der ADB überlegen. Ihre Initiatoren, Friedrich Johann Justin Bertuch und Christian Schütz, hatten die Veränderungen auf dem Buchmarkt eingehend sondiert: Sie öffneten die Spalten des in klassizistischer Antiqua gesetzten Blattes der Schönen Literatur und vermochten so vor allem die jüngere Generation des gebildeten Lesepublikums an sich zu ziehen. Der alternde Aufklärer Nicolai war hingegen nicht bereit, sich dem Publikumsgeschmack anzupassen. Er hielt an dem althergebrachten Fächerkanon fest, der inzwischen durch die Ausdifferenzierung der Fachdisziplinen als überholt angesehen werden mußte. Das Erscheinen von 22 regulären Stücken und dem fünften "Anhang" in 10 Stücken im Jahre 1791, dem vorerst letzten Jahr, in dem Nicolai sein Hauptwerk selbst dirigierte, war denn auch kein Indiz der Wiederbelebung, sondern ein Zeichen des Anfangs vom Ende.
Obwohl die Verfasserin ihre Quellen und die einschlägige
Forschungsliteratur souverän auswertet und nicht zuletzt die bisher
ungedruckten Materialien so geschickt aufbereitet, daß sie zur
weiteren Erforschung der ADB geradezu reizen, tauchen doch in ihrer
Darstellung Sachverhalte auf, die nicht ausreichend recherchiert
worden sind. Die als Exempel einer normverletzenden Rezension
interpretierte rüde Besprechung des zweiten Bandes von Friedrich Carl
von Mosers Gesammelten moralischen und politischen Schriften (S. 296
- 298) stammt nicht von Justus Möser. Verfasser ist vielmehr Thomas
Abbt, mit dessen Chiffre der Text versehen ist. Nicolai selbst war in
diesem Falle der Anstifter eines Komplotts: "Recensiren Sie dis Buch
lieber zur Bibliothek", schreibt er am 23. Februar 1765 an Abbt.
"Untersuchen Sie des Herrn Mosers Sätze als ein Fremder, und als wenn
das Buch gar nicht wider uns geschrieben wäre" (Verlegerbriefe, S.
31). Herder ist nicht im Jahre 1773 (S. 310) aus der ADB
ausgeschieden: Seine letzten Rezensionen sind zu Beginn des Jahres
1774 an Nicolai abgegangen.[3] Der nach dem Tode Lessings im Februar
1781 einsetzende Wettstreit zwischen Herder und Nicolai um die
Handschriften von Johann Valentin Andreae in der Wolfenbütteler
Bibliothek kann nicht als "Ursache" (S. 310 und Fn. 183) für Herders
endgültigen 'Ausstieg' aus der ADB im Juli 1774 bewertet werden. Der
von Nicolai für die Anfertigung der Autorenporträts, die den Bänden
der ADB als Frontispize beigegeben wurden, beschäftigte Stecher heißt
nicht Schlauen (S. 258), sondern J.-F. Schleuen; er fehlt im Register,
ebenso wie Nicolais langjähriger Schleusinger Drucker Christoph
Günther. Die Familiennamen Shaftesburgs werden in Text und Register
als Vornamen ausgegeben, und drei weiteren gelehrten Autoren sind im
Register die Vornamen abhandengekommen. Einige auffällige grammatische
Schnitzer gehen vermutlich auf die Korrektur am Bildschirm zurück, die
bekanntlich ihre eigenen Tücken hat.
Würde man einem Rezensenten auferlegen, die Arbeit von Thomas Lick
über Friedrich Zarncke und das "Literarische Centralblatt für
Deutschland" nach Nicolaischen Maßstäben zu beurteilen, so müßte er
sie wohl in einer Kurzanzeige abfertigen. Die im Untertitel
angekündigte Untersuchung hat offenbar nicht stattgefunden. Der
Verfasser legt eine Sammlung von Dokumenten zur Redaktions- und
Verlagsgeschichte und zur Biographie des langjährigen Redakteurs vor,
die er chronologisch geordnet und in der Art einer Geschichtserzählung
mit kurzen verbindenden Texten versehen hat. Ein Kommentar zu den
ausgewählten Materialien fehlt völlig. Vom gesamten Text stammen
höchstens zehn Prozent aus der Feder des Verfassers.
Die Lektüre des Buches wird dem Leser durch die stilistische
Hilflosigkeit des Autors der Zwischentexte erheblich erschwert. Zum
einen neigt er zur Lakonie ("Das sind die Worte von Zarnckes Sohn
Eduard", S. 278), zum anderen manövriert er sich in die Nähe der
Unverständlichkeit: "Immer wieder vor Augen führen muß man sich bei
aller Kritik, die man zu erheben glaubt, daß die Leitung einer so
informativen Zeitschrift (die sich gar noch bewährte), nicht
selbstverständlich ist" (S. 213). Die Schreibart des Verfassers bewegt
sich zwischen salopper Umgangssprache (zu den Göttingischen Gelehrten
Anzeigen: "Das Blatt besteht auch heute noch", S. 9), Trivialroman
("Man fragt sich bei den vielen Tätigkeiten Friedrich Zarnckes
unweigerlich: Was passierte, wenn Zarncke krank war?", S. 54) und
markigen Sprüchen ("Avenarius wirft wieder scharfes Auge auf die
Jenaer Literaturzeitung", S. 106).
Hinzu kommt, daß Lick häufig genug Unwichtiges nicht von Wichtigem zu
trennen vermag: "Im Jahrgang von 1871 ist eine kleine äußerliche
Änderung festzustellen. Die laufende Nummer rückt hinter die
Jahreszahl, dafür steht der Tag vor dem Monat (zuvor stand er
dahinter)" (S. 86). Angesichts dieser Auspizien liegt es nahe, die
Empfehlung auszusprechen, die Dokumentation nicht als Buch zu lesen,
sondern als Steinbruch zu benutzen. Der Buchhandelshistoriker kann
einiges aus der langjährigen Korrespondenz des Verlegers mit seinem
Redakteur lernen; dem Wissenschaftshistoriker bietet sich die
Gelegenheit, die Fächergewichtung in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts im Spiegel einer allgemeinwissenschaftlichen
Rezensionszeitung zu betrachten, und der Zeitschriftenforscher erhält
einen nützlichen Baustein zur Gattungsgeschichte eines Periodikums,
das 1785 mit der ALZ ins Leben gerufen wurde und mit dem jähen Ende
der Deutschen Literaturzeitung im Juni 1993 wohl endgültig zu Grabe
getragen worden ist.
Horst Meyer
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