Dieser Überblick über vergleichbare ältere Einführungen und
Gesamtdarstellungen ist natürlich nicht vollständig, aber er zeigt,
womit sich ein Autor eines neuen Buches auseinandersetzen muß. Norbert
Franz nennt einige davon in seinen Anmerkungen, verweist auch auf
Einführungen, die in der DDR und in slawischen Ländern erschienen
sind, aber es fehlen wichtige Titel: Von Braun ist nur der Aufsatz,
von Diels nur das Büchlein von 1920 genannt, Kohn bleibt unerwähnt.
Überhaupt hätte seine Einführung gewonnen, wenn er einen solchen
Überblick zusammenhängend im Text geboten hätte. Eine Bibliographie
hätte in einer Einführung in das Studium in keinem Fall fehlen dürfen.
Für Diels besorgte sie einer der bedeutendsten deutschen slawistischen
Bibliothekare: Alexander Adamczyk. Anlaß für die neue Einführung war
die Wiedervereinigung Deutschlands. Franz hat eines der ersten Bücher
geschrieben, das die deutsche Slawistik, die vierzig Jahre getrennt
war, wieder als Einheit betrachtet. Der Blick auf die Einheit betrifft
zwar nur einzelne Teile, doch dort hätten die früheren Unterschiede
stärker herausgestellt werden können - mindestens in dem von mir
vertretenen Teilbereich, der russischen Literatur. Eine Charakteristik
der Eigenheiten der in der DDR geschriebenen umfangreichen
Literaturgeschichten mit ihren Auslassungen und Verfälschungen im
Vergleich zu den in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten,
z.B. J. Holthusen[11] (der nicht erwähnt wird) gegenüber der von H.
Jünger[12] edierten (von dem nur ein Aufsatz genannt wird) wäre nötig
gewesen, um in einer Einführung erste Orientierungshilfen zu geben.
Die Geschichten der russischen Literatur, die 1993 von K. Kasper[13] und
1994 von W. Beitz,[14] zwei ehemaligen DDR-Slawisten herausgegeben wurden
und die deutliche Beweise für das Umdenken der kommunistisch erzogenen
Autoren darstellen, mögen Franz noch nicht bekannt gewesen sein, als
er das Buch schrieb, aber es fehlen grundsätzlich Hinweise auf viele
deutsche Standardwerke der Russistik.
Die Einführung beginnt mit einer Geschichte der Slawistik, die ein
gutes Viertel des Bandes einnimmt und nicht auf Deutschland beschränkt
ist.[15] Mit Recht betont Franz: "Das Fach münzt in wissenschaftliche
Fragestellungen um, was seit der direkten Nachkriegszeit der
Sowjetunion an Neugierde entgegengebracht wurde". Unter dem Begriff
der "zentralen Wissensbestände der Slavistik" stellt Franz dann die
Sprachen und Literaturen auf jeweils drei bis vier Seiten vor, zieht
dabei zur Veranschaulichung der sprachlichen Eigenheiten das
Johannes-Evangelium heran ("Im Anfang war das Wort"), also einen gut
vergleichbaren, aber stilistisch nicht typischen und dazu übersetzten
Text, informiert über Grundzüge der jeweiligen literarischen
Entwicklung und bietet einen tabellarischen Grundkanon
"Literaturwissen".
Außerhalb des Themas Slawistik steht eine längere "inhaltliche
Bestimmung von 'Wissenschaft'", die Franz mit einem "Exkurs: Funktion
und Dysfunktion im kulturellen System" abschließt. Bei dem gegebenen
geringen Umfang der "Einführung" wäre der Raum sicher besser für
Slawistisches genutzt worden. Hier wird der spezifische, auf
Einordnung in Systeme und Strukturen ausgerichtete Ansatz des Autors
auch für literarische Forschung deutlich. Als Beispiel wählt er
indessen einen Text aus der Gummibereifung von Kraftfahrzeugen.
Die Seiten 142 - 154 dürften die meistkopierten des Buches sein, denn
hier wird eine aktuelle Liste der Slawischen Institute Deutschlands
mit Personalausstattung, Bibliotheksbestand, Adressen und
Telephonnummern, sowie von Institutionen außerhalb der Universitäten
geboten, die slawistische Forschung betreiben.
Eine Einführung wendet sich primär an Studenten, an Studienanfänger.
Darauf hat Franz z.B. die Kurzbeschreibungen der einzelnen Sprachen
und die Literaturlisten ausgerichtet. Ob die Institutsliste, der
historische Überblick und eine Geschichte der Edition des Igorliedes
solchen Nutzen bringen, ist anzuzweifeln. Am Schluß des Buches wird
zur Begründung des Faches ein "Handzettel" des russischen
Sprachvereins von München aus dem Jahre 1905 ausführlich zitiert. Das
mag dem Historiker Vergnügen bereiten. Der Studienanfänger aber hat
höchstens einen Nutzen aus den daraus gezogenen Schlüssen für die
Gegenwart und aus dem Hinweis auf geringe Berufschancen.
"Überlegungen zur Reform des Studiums" gehören in einen anderen
Kontext. Wenn Franz "eine auch semantisch aufgewertete
Zwischenprüfung" fordert, die er dann "Baccalaureus" nennt, so wäre
der Adressat mindestens die Rektorenkonferenz. Seine Vorstellung von
einem zweijährigen Studium nach der Zwischenprüfung, also insgesamt
acht Regelsemester ist angesichts der zu erlernenden Sprachen reine
Theorie.
Die Schwächen des Buches liegen aber nicht nur in der Unklarheit, für
wen es geschrieben ist und in der Ungewöhnlichkeit der Schwerpunkte,
sondern - wie der Sprachwissenschaftler Werner Lehfeldt[16] in einer
langen Rezension detailliert nachgewiesen hat, in der Masse der
Detailfehler. Er resümiert: An "Genauigkeit fehlt es dem Buch, und
deshalb kann das Gesamturteil nur negativ sein."[17] Er zählt
erschreckend viele falsche Namensschreibungen, Transkriptionen und
Jahresangaben auf. Ergänzende Proben im Bereich Literaturwissenschaft
bestätigen ihn: Die letzten vier Titel der Lektüreempfehlungen aus der
russischen Literatur enthalten z.B. vier Fehler, wobei Rakovoj korpus,
statt ...kovyj und Josif Brodskij statt Iosif... kaum noch als
Druckfehler zu erklären sind. Ähnliches gilt für die inhaltlichen
Aussagen. Lehfeldt hat erhebliche Fehler im Sprachwissenschaftlichen
nachgewiesen, und bei der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts
ist z.B. ihre Spaltung in Inlands- und Auslandspublikationen
(Emigration und Tamizdat) bis zur allmählichen Wiedervereinigung seit
der Perestroika zu wichtig, als daß man sie unerwähnt lassen könnte;
auch ist es eine so ungewöhnliche Besonderheit, daß zur russischen
Literatur von der späteren Sowjetperiode an auch nichtrussische
Schriftsteller gehören, daß dies hätte erwähnt werden müssen.
Solshenizyn als "Autor der Geschichte Rußlands" (S. 92) zu bezeichnen
ist ebenso falsch wie das Wörterbuchprojekt bei der Mainzer Akademie
"deutsch-russisch" zu nennen (S. 42). Es ist "russisch-deutsch" und
der Initiator war Herbert Bräuer.
Als Einführung in das Studium kann man das Buch nicht empfehlen. Ein
Fachmann kann jedem Buch Anregungen entnehmen, wird hier aber jede
Angabe überprüfen müssen. Ähnliche Unternehmungen sind heute besser
nicht von einem einzelnen Autor zu bewältigen, schon für einen
Herausgeber ist die Arbeit schwer genug.
Wolfgang Kasack
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