Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus: Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 4
[ Bestand in K10plus ]
Duden "Grammatik der deutschen Gegenwartssprache"
- 95-4-571
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Duden "Grammatik der deutschen Gegenwartssprache" / hrsg.
und bearb. von Günther Drosdowski in Zsarb. mit Peter
Eisenberg ... - 5., völlig neu bearb. und erw. Aufl.
- Mannheim [u.a.] : Dudenverlag, 1995. - 864 S. ; 20 cm.
- (Der Duden ; 4). - ISBN 3-411-04045-9 : DM 36.00
- [2875]
Das gravierendste Problem einer Grammatik heißt heute, einen
akzeptablen Kompromiß zu finden zwischen dem Bestreben, die alltäglich
erfahrbare Vielfalt der Sprache zu dokumentieren und andererseits dem
Wunsch, mehr oder weniger behutsam sprachlichen Normen zu ihrem Recht
zu verhelfen. Wie schwer sich hier auch die Duden-Grammatik tut,
erhellt das Vorwort des Herausgebers, aus dem - da ein grundlegender
Konflikt des (zeitgenössischen) Grammatikers angesprochen wird - etwas
ausführlicher zitiert werden darf: "Dem Umstand, daß das sprachliche
System nicht homogen und stabil ist, versucht die Duden-Grammatik
durch eine differenzierte, der unterschiedlichen Strukturiertheit
entsprechende Darstellung und eine offene Norm gerecht zu werden. Sie
beschreibt primär, sie führt die Breite des Üblichen vor, verschweigt
nicht konkurrierende Wortformen und Verwendungsweisen, sondern
erläutert sie, und sie achtet darauf, daß Sprachgebrauch und
kodifizierte Norm nicht auseinanderklaffen. Das Bekenntnis zu einer
grundsätzlich deskriptiven Orientierung bedeutet auf der anderen Seite
keinen Verzicht auf normative Geltung - diese ergibt sich überdies
bereits aus der Kodifizierung der Standardsprache! Die Duden-Grammatik
führt somit die sprachkulturelle Aufgabe fort, sie bleibt nicht bei
der Deskription stehen, sondern klärt - im Rahmen wissenschaftlich
begründeter Sprachpflege - auch Normunsicherheiten und wirkt den
Zentrifugalkräften in der Sprache entgegen. Die Legitimation dazu
leitet sie aus der Überzeugung ab, daß eine Sprachgemeinschaft eine
über regionale, soziale, berufliche und andere Schranken hinweg
verständliche, in der Schule lehr- und erlernbare Sprache braucht."
(Vorwort des Herausgebers, S. [9]). Der Zielkonflikt zwischen
Präskription und Deskription, auch bereits im Vorwort zur 4. Aufl. von
1980[1] unmißverständlich formuliert, wurde in der bisherigen Auflage
noch häufiger zugunsten einer dezidierteren Normierung und zur
Markierung des Fehlerhaften entschieden. So wurden beispielsweise
Fügungen wie "meinem Vater sein Hut" anstelle von "der Hut meines
Vaters" in der 4. Aufl. noch wie folgt kommentiert: "Diese Ersetzung
des Genitivus possessivus gilt allerdings im höchsten Maße als
umgangssprachlich." (S. 600). Versöhnlicher, kompromißbereiter,
konfliktscheuer, apologetischer, sicherlich auch dem Zeitgeist
gegenüber opportunistischer hingegen die Formulierung des gleichen
Sachverhalts in der jüngsten Auflage: "Der Ersatz des Genitivus
possessivus durch eine Fügung aus Dativ und Possessivpronomen gilt als
umgangssprachlich, obwohl dies in gesprochener Sprache seit langem im
gesamten deutschen Sprachraum üblich ist [...]". (S. 645) Die bereits
aus der vorausgegangenen Auflage vertraute Gliederung - leider keine
durchgehende Dezimalgliederung - wird auch weitgehend der vorliegenden
Auflage zugrundgelegt: "Das Wort" ("Der Laut und die Lautstruktur des
Wortes", "Der Buchstabe und die Schriftstruktur des Wortes", "Die
Wortarten", "Die Wortbildung", "Wort und Wortschatz"), "Der Satz". Das
Kapitel "Der Satz" enthält ein bescheidenes Unterkapitel "Vom Wort und
Satz zum Text - ein Ausblick" (S. 802 - 826), das in der 4. Aufl. noch
fehlte; zur Aufnahme eines größeren textgrammatischen Kapitels hat man
sich gleichwohl leider nicht entschließen können. Im Vergleich der
beiden Auflagen wird überdies deutlich, daß die jüngere Auflage zur
Erläuterung grammatikalischer Phänomene und Probleme linguistische
Kategorien, Konzepte und Kontexte weit mehr als bislang explizit
vermittelt und dabei auch neuere Theorien stärker berücksichtigt. Dies
wird vor allem im Kapitel "Wort und Wortschatz" deutlich, zeigt sich
aber auch in vielen eher unscheinbaren Passagen. Während sich die
Darstellung der Personalpronomina in der 4. Aufl. beispielsweise
direkt dem erst zu besprechenden Pronomen "du" zuwendet (S. 317), wird
in der 5. Aufl. zunächst auf den grundlegenden deiktischen Charakter
des Personalpronomens hingewiesen (S. 325). Auch der jüngsten Auflage
sind beigegeben: "Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen" (S. 827),
"Verzeichnis der Fachausdrücke" (S. 828 - 837), "Literaturverzeichnis"
(S. 838 - 842), "Sachregister, Wortregister und Register für
sprachliche Zweifelfälle" (S. 843 - 864). Der sehr unterschiedliche
Schwierigkeitsgrad der Registereinträge - einerseits Wörter wie
"anläßlich" oder "lohnen" bzw. bereits als Zweifelsfälle
charakterisierte Oppositionen wie "lehren (oder lernen?)",
andererseits grammatikalische Termini wie "Faktitivum",
"Infinitivkonstruktion", "Kongruenz" oder "Vorgangspassiv" - sollte
für ein grundlegendes Problem der Duden-Grammatik sensibilisieren:
Demjenigen, der beispielsweise nachschauen will, ob man "Samstag" oder
"Sonnabend" gebraucht oder welche Präposition im Anschluß an "binnen"
zu verwenden ist, wird durch das Register rasch die nötige Hilfe
geboten. Wer jedoch Rat sucht für die Konstruktion eines irrealen
Konzessivsatzes ("Auch wenn man mir 100 Mark anböte, verkaufte ich das
Buch n i c h t", S. 160), muß erst einmal um die Bezeichnung der
gewünschten Konstruktion wissen: ein Wissen, daß in einer Zeit rapide
schwindender grammatikalischer Kenntnisse auch bei gängigeren
sprachlichen Konstruktionen kaum noch vorausgesetzt werden dürfte.
Oftmals reicht der punktuelle Blick ins Register allein nicht aus.
Erst die Kenntnis grundlegender grammatikalischer Termini,
Vertrautheit mit dem Aufbau des Dudens und seinem Regelwerksstil,
detaillierte, lernorientierte Lektüre auch längerer Passagen, durch
mehrmaliges Nachschlagen, auch browsing gewonnene Erfahrungen
ermöglichen eine letztlich erfolgreiche Nutzung eines Werkes, das auch
aufgrund seiner Detailfülle durchaus als knifflig und sophisticated
bezeichnet werden darf. Um nicht mißverstanden zu werden: Die hier
vorgetragenen Anmerkungen sollen nicht als Hilfestellungen zu einer
Kaufentscheidung dienen, macht doch der weiterhin kanonische Charakter
der Duden-Grammatik deren Erwerb durch jede Bibliothek ohnehin
zwingend. Vielmehr sollte in ein Nachschlagewerk eingeführt werden,
dessen Intention, Struktur und Problematik auch
Auskunftsbibliothekarinnen und -bibliothekaren vertraut sein sollten.
Werner Bies
- [1]
- Duden "Grammatik der deutschen Gegenwartssprache" / hrsg. und
bearb. von Günther Drosdowski in Zsarb. mit Gerhard Augst ...
[Autoren: Max Mangold ...]. - 4., völlig neu bearb. u. erw. Aufl.
- Mannheim [u.a.] : Bibliographisches Institut, 1984. - 804 S. - (Der
Duden in 10 Bänden ; 4). - ISBN 3-411-20904-6.
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