Ähnlich schwierig sind die Verhältnisse bei Walter Benjamin, zu dem die Cicero-Presse jetzt eine lange entbehrte kommentierte subjektive Personalbibliographie von M. Brodersen vorlegt. Sie geht weit über die bisherigen bibliographischen Arbeiten Rolf Tiedemanns, des Herausgebers der Gesammelten Schriften Benjamins, hinaus. So sind bei Brodersen allein 493 unselbständig erschienene Beiträge nachgewiesen.
Brodersen bietet sein Material in folgenden Abschnitten: A. Gesammelte Schriften; B. Sammlungen; C. Einzelwerke; D. Benjamin als Übersetzer (selbständig und unselbständig erschienene Publikationen); F. Briefe und Briefwechsel; G. Übertragungen der Schriften Benjamins (nach dem Alphabet der Sprachen unterteilt). Innerhalb der Abschnitte sind die Eintragungen durch eine - ggf. abgestufte - Numerierung bezeichnet. (Mitarbeiter an Teilen, vor allem in der Rubrik G, werden übrigens seltsamerweise nur im Inhaltsverzeichnis erwähnt.)
Die einzelnen Abschnitte bieten die Schriften in der chronologischen Folge ihres Erscheinens. Ausnahmen bilden die Bände der deutschen und fremdsprachigen Werkausgaben, chronologisch nicht sicher einzuordnende Schriften und die Übersetzungen im Abschnitt G, die innerhalb eines Jahres lediglich nach dem Alphabet der Übersetzungstitel geordnet sind. Warum nicht nach dem der Originaltitel?
Erfaßt sind - konsequent unter dem Titel ihres Erscheinens auch dann, wenn sich eine Zeitschriftenredaktion über Benjamins Titelvorgabe hinweggesetzt hat - Erstveröffentlichungen (einschließlich der Vorabdrucke), Nachdrucke zu Benjamins Lebzeiten und der jeweils erste postume Nachdruck. Weitere Nachdrucke, ebenso die Raubdrucke sind nur vereinzelt nachgewiesen. Bei Zeitungsbeiträgen ist die Kollation verschiedener Ausgaben desselben Tages auf die Frankfurter Zeitung beschränkt. Die wenigen nicht autopsierten Titel (vor allem im Abschnitt G) sind mit einem Asteriskus gekennzeichnet.
Den Rang dieser Bibliographie bestimmen vor allem die Kommentare zur
Entstehungs- und Textgeschichte der kleinen Texte, die Benjamin in
einem Prozeß der Fortschreibung immer wieder verändert und an neue
Stellen versetzt hat. Unter den sieben Registern, die ein Viertel des
Umfangs einnehmen (Werktitel, Übersetzungen, Rezensionen,
Briefempfänger, Periodika, Verfassersiglen, Namen) kommt daher dem
Werkregister besondere Bedeutung zu, das sämtliche Titelvarianten
enthält.[1]
Benjamin, selbst Verfasser einer bislang unveröffentlichten
Lichtenberg-Bibliographie, die
im Fachbereich Germanistik der Universität
Gießen (nicht, wie hier behauptet, im Universitätsarchiv) verwahrt
wird, hat von der Bibliographie im organischen Zusammenhang der
Wissenschaft 1928 einmal geäußert, sie "sei nicht ihr Nervengeflecht,
aber das System ihrer Gefäße. Mit Bibliographie ist die Wissenschaft
groß geworden, und eines Tages wird sich zeigen, daß sogar ihre
heutige Krisis zum guten Teile bibliographischer Art ist." Für die
Benjamin-Forschung hat Brodersen - nach seiner Bibliographie der
Kritik[2] - mit dieser Primärbibliographie einen zweiten Beitrag zur
Überwindung ihrer Krisis beigetragen. Von der Krisis der
Benjamin-Forschung ist in der Fachdiskussion zumeist in editorischer
Hinsicht die Rede; die editorische Situation ist aber von der
primärbibliographischen nicht zu trennen.
Nicht unerwähnt bleibe, daß die Lesbarkeit dieser Bibliographie ganz
wesentlich aus der vorzüglichen typographischen Gestalt resultiert.
Bibliographie ist keine Textsorte, die sich für self-made-desktop
eignet.
Hans-Albrecht Koch
Zurück an den Bildanfang