Diederichs unternimmt keineswegs den untauglichen Versuch, diese
Entwicklung in extenso zu dokumentieren. Er wählt bedachtsam anhand
der Literatur diejenigen Märchengestalten aus, die als aktueller
Bewußtseinsinhalt gelten können: die am meisten verfilmten, am
häufigsten parodierten, in Umfragen oft genannten. Das Sample umfaßt
schließlich 230 Artikel: Märchenheldinnen und -helden, topische
Gestalten wie Drache, Hexe, Fee - der Autor nennt sie
"Märchenpersonal", aber eben auch eine nicht unerhebliche Reihe von
monographischen Artikeln über einzelne Märchen, jeweils von der
Heldin, vom Helden her gesehen. 110 Verweisungen von abweichenden
Namens- oder Titelfassungen bieten weitere Einstiegmöglichkeiten;
Binnenverweisungen innerhalb der Artikel sind häufig. Das Taschenbuch
soll ohne Register auskommen und kann dies auch. Der integrierte
Verweisungsapparat ist sorgfältig gearbeitet.[4]
Märchenmotive sind international verbreitet; Märchen und
Märchensammlungen werden über Staats- und Sprachgrenzen hinweg
tradiert, sei es als Übersetzung literarischer Werke, durch
Massenmedien oder durch mündliche Überlieferung. Nichtdestoweniger
liegt der Schwerpunkt der Erzählforschung auf der Überlieferung in
europäischen Sprachen, auch wenn die von ebendieser Forschung
versammelten Textcorpora weit darüber hinausgehen. Die stete
Bezugnahme auf einzelne Märchenfiguren legt die
literarisch-kulturhistorische Betrachtungsweise nahe;
Märchengeschichte als Stoff- und Motivgeschichte. Ausgangspunkt sind,
wie gesagt, Märchenfiguren als aktueller Bewußtseinsinhalt. Ihre
Herkunft und Verbreitung sind Gegenstand der Darstellung. Zuerst daher
die nächstliegende Ausformung des Motivs, wenn nicht bei den Brüdern
Grimm (82 Artikel) dann bei Hans Christian Andersen (18) oder in 1001
Nacht (10). Alle anderen Quellen bleiben an Häufigkeit darunter: die
slawischen (Afanasjev 7), die romanischen (14), die englischen (10).
Einzelne Artikel führen Märchenhelden aus Indien, Ägypten und China
vor. Das betrifft die jeweils bekannteste und nächstliegende,
vielleicht auch vollständigste, ursprüngliche oder am besten
einleuchtende Motivvariante, das, was Walter Scherf "Leitfassung"
nennt; von ihr geht die Darstellung aus. Ein gutes Drittel der Artikel
beschäftigt sich mit den Protagonisten Grimmscher Märchen; aus dem
Grimm-Kanon werden vier Zehntel dokumentiert, viermal soviel wie die
zehn Prozent, von denen der Autor sagt, sie seien im kollektiven
Bewußtsein verankert (S. 11).
Das Who's who im Märchen gründet sich auf die Auflösung literarischer
Genres und ihre gegenseitige Durchdringung. Es kann daher auch ein
Stichwort wie Anselmus enthalten, Protagonist des Goldenen Topfes von
E.T.A. Hoffmann, der seine Geschichte in charakteristischer
definitorischer Unklarheit als "Mährchen" bezeichnet hatte (1814). Der
das "kindlich poetische Gemüt" feiernde Text hat keine Beziehung zum
Volksmärchen, vielmehr - als eine Geschichte von Elementargeistern
- zur gelehrten Überlieferung. Außer einer knappen Nacherzählung
Hoffmanns kann Diederichs hier denn auch bloß auf einige Illustratoren
und eine Oper verweisen (S. 28 - 29). - Die Märchenfiguren der
literarischen Überlieferung haben einen hohen Anteil am Personal des
Lexikons. Nicht alle stammen aus Kunstmärchen (H. C. Andersen ist mit
17 Artikeln am besten vertreten). Die Märchendichtung der Romantik ist
außer durch Hoffmann mit Werken von Hauff, Chamisso, Brentano und
Fouqué in das Who's who eingegangen; der problematische Eichendorff
fehlt, seine Märchenfiguren gehören nicht zum überlieferten Personal.[5]
Umdichtungen und Parodien von Franz Fühmann (1967) bis zu Anthologien
von 1983 und 1986 wurden außerdem ausgewertet; die Wirkungsgeschichte
umfaßt Hinweise auf Illustrationen und Cartoons, Dramatisierungen,
Verfilmungen, die psychologische Rezeption u.a.m. Daß Verfilmungen
selten angegeben werden und Hörspiele ganz fehlen, ist dem Autor nicht
anzulasten; man kann die Quellenlage in diesen Bereichen nur desolat
nennen. Trotz erster Anfänge bei der Aufarbeitung der
Märchenverfilmungen bleibt hier noch alles zu tun.[6]
Von besonderem Interesse werden für den Benutzer nach dem Gesagten die
43 Artikel sein, die nicht von einem bestimmten literarischen Text
ausgehen, sondern längsschnittartig Protagonisten eines Märchentyps in
verschiedenen Varianten vorstellen. Auf dieses Fünftel der Artikel
läßt sich der Titel des Werkes am besten beziehen. Leider erweisen
sich gerade diese Aufsätze bei näherem Hinsehen als wenig ergiebig,
z.B. die Eintragung Dummling, die von der umfangreichen Literatur
praktisch keinen Gebrauch macht und die von Max Lüthi getroffene
Unterscheidung zwischen Dummling und Dümmling ignoriert.[7] Wir müssen
uns mit einem amüsanten Abschnitt über H. C. Andersens Klodshans
begnügen. - Auch der Artikel Rübezahl beschränkt sich auf wenige
Zeilen, die die literarische Überlieferung und wichtige Illustratoren
angeben sowie eine Oper, ein Drama und eine Verfilmung nennen.[8] Wenn
die literarische Überlieferung ins Spiel kommt, wird man, wie der
Vergleich zeigt, für die erste Orientierung eher zu den Handbüchern
von Elisabeth Frenzel greifen.[9] Hingegen faßt der Artikel "Hexe" deren
auf das Märchen beschränkte Funktionen und Fähigkeiten bündig zusammen
und zählt zur Freude des Lesers auch ihre bei den Brüdern Grimm
vorkommenden Todesarten auf: "... sechsmal verbrannt ..., fünfmal
aufgehängt, fünfmal in Faß oder Sack ertränkt - ein Widerschein der
historisch verbürgten gnadenlosen Hexenverfolgungen -, außerdem
dreimal von Tieren zerrissen, dreimal geblendet, zweimal geköpft" (S.
160).[10]
Das Lexikon erfüllt vollauf seine Aufgabe, dem interessierten Laien
die Erinnerung an die Märchen seiner Kindheit wachzurufen und das für
die Gegenwart konstatierte Anspielungswissen aus der Märchenwelt
anhand konkreter Namen lebendig zu halten. Zur Beantwortung der Frage
"Was war noch gleich mit Dornröschens Kindern?", die Diederichs zu
Beginn seiner Einführung stellt, ist es hervorragend geeignet (sie
kommen bei den Grimms nur in der Erstausgabe 1812 als Märchen Nr. 84
unter dem Titel Die Schwiegermutter vor und entgehen knapp dem
Gefressenwerden); für weitergehende Fragen wird man zusätzliche
Nachschlagewerke heranziehen müssen.
Willi Höfig
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