Dem Ziel der praktischen Lebenshilfe entsprechend, trägt das Märchenlexikon kein Sachwissen zusammen, sondern stellt nach der Meinung des Autors "einen Ratgeber fürs Leben dar, der sich insbesondere an suchende Menschen richtet, die offen sind, um der Seele der Märchen-, Sagen- und Fabelwelt nachzuspüren" (Vorwort, unpaginiert). Die Volkserzählungsforschung hat keinen Anlaß, pädagogischen und populärpsychologischen Ansätzen der Märchenbetrachtung abwertend gegenüberzustehen; sie wird aber darauf zu achten haben, daß der "interessiert fragende Laie" nicht über Probleme und Ergebnisse der Forschung fehlinformiert wird.
Lanzerath meint, "daß die vielfältigen Frageformen eines Laien eine
neue Lexikonstruktur erzwingen". Es handelt sich um vier getrennte
Verzeichnisse. Zunächst werden unter dem Titel Schlagworte auf 50
Seiten 245 Kurzreferate zu sehr verschiedenartigen Themen
zusammengestellt: Erzählungen einzelner Märchen, Beispiele für
Geschehensabläufe und die Behandlung von Märchenfiguren, aber auch
knapp zusammenfassende Darstellungen der Märchenverfilmung oder des
Kunstmärchens. Dazu kommen im selben Alphabet 271 meist einzeilige
Wortklärungen von Allah und Allongeperücke bis Zisterne und Zofe;
schließlich 23 Auflösungen allgemeiner Abkürzungen und 38 Verweisungen
innerhalb des Alphabets. Nicht alle Artikel sind sinnvoll auf Märchen
zu beziehen, häufig wird das jeweilige Stichwort unter allgemeinen
symbolischen Gesichtspunkten interpretiert (Abschlagen, Ameise,
Apfelbaum). Die Auswahl der Stichworte bleibt unklar; das versammelte
Material ist eigenwillig und nicht immer zur Vermittlung von adäquatem
Sachwissen geeignet; zufällige Quellenauswahl dürfte eine Rolle
gespielt haben, etwa bei der Häufung von bergtechnischen
Spezialbegriffen (Doppelhäuer). Der Aufbau der Artikel ist
uneinheitlich, entscheidende Informationen können fehlen wie in
Anti-Märchen, das in 15 Zeilen ausschließlich die Erzählung der
Großmutter in Büchners Woyzeck behandelt und mit dem Satz schließt,
dieser Text sei "der Spiegel einer Seele, die nichts als Schwermut,
Ausweglosigkeit im Kampf gegen die ihr so schlecht erscheinende Welt
und Haß kennengelernt hat, die nie˙erfahren durfte, daß es auch
Mitleid, Hilfe von außen, Zärtlichkeit, Wahrhaftigkeit, also Liebe
gibt ... Hiervon nämlich handeln die 'richtigen' Märchen. Sie geben
Hoffnung, Anti-Märchen sind destruktiv" (S.3).[2]
Der zweite Teil des Lexikons trägt die Überschrift Kurzfassungen; hier
werden auf 108 Seiten 511 Märchen, Sagen, Fabeln und verwandte
literarische Texte in Regestenform oder im Auszug referiert: 60 Seiten
bieten literarische Motive anhand von Beispielen, es folgen
Nacherzählungen antiker und nordischer Heldensagen sowie -
geographisch gegliedert - Orts- und ätiologische Sagen, schließlich
Beispiele zur Geschichte der Fabel von Äsop bis zu James Thurber. Die
weitere Untergliederung nach wechselnden Gesichtspunkten bietet keine
Suchhilfe (Schlaraffenland unter "Heinzelmännchen und andere dienende
Geister", S.45).
Im dritten Teil werden 140 Biographien von Sammlern, Erzählern und
Regisseuren von Märchenfilmen zusammengetragen, aber auch
Schriftsteller des In- und Auslandes, schließlich sogar Karl Friedrich
Hieronymus Frhr. von Münchhausen als "deutscher Schriftsteller"
(einschließlich eines Porträts, leider ohne Quellenangabe).[3] Von der
Auswahl der Personen und der Verläßlichkeit der gegebenen Daten her
handelt es sich um den schwächsten Teil der Publikation. Wenn es
beispielsweise schon verwundert, Arno Schmidt in diesem Kreis zu
finden - offenbar wegen des Untertitels Märchenposse des Romans Abend
mit Goldrand -, so ist man verdutzt zu erfahren, daß er zurückgezogen
in Celle gelebt habe; angesichts der nicht gerade im Flüsterton
vorgenommenen Bargfeld-Mythisierung ein faux pas erster Güte. Die
Zufallsauswahl der aufgenommenen Personen korrigieren zu wollen, würde
den Rahmen dieser Rezension sprengen, ebenso die Richtigstellung der
zahlreichen Irrtümer bei den Daten. Positiv und nützlich sind die
Angaben über Märchenfilm- und Theaterregisseure insbesondere
Osteuropas, deren Daten nicht immer leicht zu ermitteln sind und über
die man hier nun Anhaltspunkte findet. Daß Lanzerath eine "Kasachische
UdSSR" kennt (statt richtig SSR, im Artikel Vogeler), darf bei einem
thüringischen Verlag vielleicht als befremdlich angemerkt werden.
Das Titelregister, der vierte Teil des Lexikons, enthält die
Überschriften von 2144 Märchen, Sagen, Fabeln und verwandten
literarischen Texten. Das gesamte Material ist durch Permutation aller
Titelworte für die Stichwortsuche aufbereitet worden, wobei die
unpermutierte Eintragung in 261 Fällen eine Verweisung auf den
Regestenteil bietet: der Benutzer muß zunächst von einem beliebigen
Titelwort auf die Grundfassung des Titels springen und findet dort
- in einem guten Zehntel aller Fälle - die laufende Nummer der
Kurzfassung. Die übrigen Titel haben eine ungefähre Quellenangabe
erhalten, etwa "Sage aus Berlin". Ausgewertet wurden 66 Quellen von
den Fabeln Lessings (317 Eintragungen) über die Märchensammlungen
Aleksandr Nikolaevic Afanas'evs (247) und der Brüder Grimm (Kinder und
Hausmärchen: alle; Sagen: 244), den Werken Gellerts (102), James
Thurbers (76), Pestalozzis (59), Ernst Wiecherts (40) bis hin zu
Heinrich Seidel, Martin Luther und Leonardo da Vinci (je 1
Eintragung). Die rein mechanische Permutation, in die auch die Artikel
einbezogen werden, führt zu erheblichem Ballast im Register. Der
Nutzeffekt ist begrenzt, weil die Quelltexte nicht verschlagwortet
wurden, sondern ihre jeweils zufällige Titelfassung zu Grunde liegt.
Märchen machen die knappe Hälfte des Materials aus, Fabeln ein gutes
Viertel; 10 % entfallen auf Sagen, der Rest auf andere literarische
Formen. Ist die Zusammenführung der Überschriften dieser sehr
unterschiedlichen Texte zu einem Stichwortregister, dessen
Eintragungen zu neun Zehnteln keinen Verweisungscharakter haben,
überhaupt sinnvoll?
Der fünfte Teil schließlich enthält ca. 4000 thematisch gegliederte
Literaturangaben, wobei der systematische Aufbau der Bibliographie
(zwischen "Bilderbücher" und "Märchenstraße") und die Zuordnung der
Einzeltitel planlos wirken; lediglich die geographische Zuordnung von
Sagen dürfte für den Benutzer eindeutig sein. Die Titelangaben sind
formal uneinheitlich; für die Auswahl des Titelmaterials sind
Kriterien nicht zu erkennen. Für bibliographische Recherchen sollte
man zu Walter Scherfs Märchenlexikon (s.o. IFB 96-1-071) und zur
Enzyklopädie des Märchens, bei älteren Werken zu Bolte/Polívka[4]
greifen; den angestrebten breiten Literaturüberblick kann dies
Zufallskonvolut nicht leisten.
Eine Unzahl sinnentstellender Druckfehler und Doppeleintragungen in
den Registern machen deutlich, daß das Märchenlexikon aus dem
elektronischen Speicher offenbar ohne jede Korrektur in den Druck
gegangen ist. Der Band wird durch sachlich und technisch fehlende
Sorgfalt, mangelnde Systematik und die Zufallsauswahl des Gebotenen
bestimmt. Geglückt und nachahmenswert ist die Bebilderung. Welche
Kleinodien der Märchenillustration in der Graphik Josef Hegenbarths zu
finden sind, hat dem Rezensenten erst dieser sonst leider so
zweifelhafte Band bewußt gemacht.
Willi Höfig
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