Als Beitrag zur Wiedereinbürgerung verfemter und weithin vergessener Autorinnen ist das Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil ohne Zweifel wichtig. Konzeptionell wie inhaltlich bietet es indes gravierende Angriffspunkte, die bei einer weiteren Neuauflage auszuräumen wären. Der erste Einwand betrifft die Personenauswahl. Selbst bei großzügiger Auslegung des Berichtsfeldes "deutschsprachige Schriftstellerin im Exil 1933 - 1945" verfehlt die Herausgeberin in mehr als 40 der 203 Fälle das vorgegebene Thema, da sie Schriftstellerinnen verzeichnet, die entweder erst lange nach 1945 zu schreiben begannen oder aber niemals aus Deutschland emigrierten. Zur ersten Gruppe zählen etwa Hilde Domin, Anna-Judith Kerr (*1923, Als Hitler das rosa Kaninchen stahl), Cordelia Edvardson (*1929, Gebranntes Kind sucht das Feuer) oder Edith Bruck (*1932), außerdem Monika und Elisabeth Mann. Deutschland gar nicht verlassen haben z.B. Gertrud Kolmar und Elisabeth Langgässer. Erstere kam bekanntlich in Auschwitz um.
In der mangelnden Berücksichtigung von abweichenden Namensformen,
Namensänderungen und Pseudonymen liegt eine zweite wesentliche
Schwäche des Nachschlagewerkes. Unter den Lemmata ist nicht eine
einzige Verweisung zu finden, in das Namenverzeichnis im Anhang
gelangten nur drei.[2] Wer demnach z.B. nicht bereits weiß, daß die
Autorin Susi Eisenberg später Susanne Bach hieß oder daß Katarina
Brendel und Hilde B. Winrich zwei Pseudonyme von Hilde Rubinstein
waren, wird im Lexikon nicht fündig.
Der Gebrauchswert des Nachschlagewerkes leidet schließlich auch unter
der ungenügenden Verwertung der neueren Literatur. Manche Beiträge
(und selbst das Vorwort) der Neuausgabe sind gegenüber der Erstauflage
nicht fortgeschrieben, grundlegende biographische und bibliographische
Hilfsmittel wie der Katalog der Bücher und Broschüren des Deutschen
Exilarchivs, die gehaltreichen Ausstellungskataloge dieser Institution
oder das Deutsche biographische Archiv, N.F. kommen im
Literaturverzeichnis nicht vor. Andererseits finden sich gerade unter
den neu hinzugekommenen durchaus auch überzeugende Artikel (z.B.
Brodnitz, Käthe; Hirsch, Käthe; Penkala, Alice; Stöcker, Helene). Eine
weitere Auflage sollte hier aufbauen.
Bedeutende Impulse für die Exilforschung gingen in den letzten Jahren
immer wieder vom Deutschen Exilarchiv der Deutschen Bibliothek
Frankfurt am Main aus. Der umfangreiche Katalog zur 1993 gezeigten
Ausstellung Deutsche Intellektuelle im Exil markiert dabei zweifellos
einen Höhepunkt der bisherigen Arbeit. Erstmals ausführlich
vorgestellt werden hier die auf Initiative von Hubertus Prinz zu
Löwenstein gegründete Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften
im Exil und die eng damit verbundene Künstlerhilfsorganisation
American Guild for German Cultural Freedom. Das Archiv der Akademie
und der American Guild konnte bereits 1970 von Prinz Löwenstein
erworben werden. Die biographischen Akten aus diesem Bestand bilden
bis heute den meistgenutzten Archivalienfonds des Deutschen
Exilarchivs.
Mit Hilfe von zahlreichen, häufig faksimilierten Dokumenten
- Aktennotizen, Briefen, Aufrufen, Zeitungsausschnitten u.a. - und mit
vielen Photographien zeigt der Katalog die wechselvolle Geschichte des
"merkwürdigen Zwillingsgebildes" American Guild / Deutsche Akademie,
zu dessen Mitgliedern und Förderern Thomas Mann, Sigmund Freud, Stefan
Zweig und andere Prominente zählten. In drei eingeschobenen Blöcken
(S. 140 - 216, 270 - 357, 439 - 538) präsentiert der Band außerdem 35
"Einzelfälle" von unterstützten Flüchtlingen. Darunter befinden sich
neben wieder zu entdeckenden (Uriel Birnbaum, Iwan Heilbut, Maria
Leitner u.a.) so klangvolle Namen wie Ernst Weiß, Siegfried Kracauer,
Robert Musil und Anna Seghers. Der Aufbau der Einzelfallberichte ist
immer gleich. Einem Abriß des Werdegangs bis in die dreißiger Jahre
folgt die Dokumentation des Kontaktes zwischen Flüchtling und American
Guild, begleitet von Erläuterungen der Herausgeber. Abschließend
werden die Lebensgeschichten zu Ende erzählt. Längst nicht immer enden
sie gut.
Mit ihrer durchdachten Materialauswahl und den kenntnisreichen
Kommentaren haben die Katalogbearbeiter - Werner Berthold, Brita
Eckert und Frank Wende - nicht nur einen hervorragenden
Ausstellungskatalog, sondern ein länger gültiges, unentbehrliches
Arbeitsinstrument geschaffen. Das sorgfältig erarbeitete
Personenregister und die im Anhang gebotenen, personengeschichtlich
bedeutsamen Listen der Stipendiaten der American Guild sowie der
ermittelten Teilnehmer an einem literarischen Preisausschreiben der
Hilfsorganisation bestätigen diesen Eindruck nur noch. Hoffentlich ist
das Werk in den meisten Bibliotheken bereits angeschafft worden.
Ein enger Weggefährte Prinz Löwensteins beim Aufbau der Deutschen
Akademie und der American Guild war der österreichische Schriftsteller
und Journalist Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel. Im gerade
besprochenen Ausstellungkatalog ist ihm ein eigenes Kapitel gewidmet.
In der jüngsten Ausstellung des Deutschen Exilarchivs vom Herbst 1995
rückte Bermann nun ganz in den Mittelpunkt. Das umfangreiche, von
Hans-Harald Müller und Brita Eckert redigierte Begleitbuch bezeugt die
bemerkenswerte Vielseitigkeit des fast völlig vergessenen Autors. Um
Bermanns Schaffen wieder bekannt zu machen, wurde es in erster Linie
als Lesebuch angelegt. Zahlreiche Photographien ergänzen die
Bermann-Texte. Das bis dahin unpublizierte Material stammt vorwiegend
aus Bermanns 1978 erworbenem Nachlaß sowie aus dem Archiv der
Deutschen Akademie und der American Guild. Hinsichtlich der
editorischen Sorgfalt steht der Katalog dem zuvor besprochenen Werk
nicht nach. Ein ausgewähltes Schriftenverzeichnis Bermanns hätte
seinen Wert indes noch erhöht.
Die Bermann-Ausstellung war gewissermaßen der Beitrag Der Deutschen
Bibliothek zum Schwerpunktthema Österreich der Frankfurter Buchmesse
1995. Gleiches leisteten in den Vorjahren die Ausstellungen Exil in
Brasilien (1994) und Deutsche Literatur im Exil in den Niederlanden
(1993). Zu diesen Veranstaltungen sind ebenfalls Kataloge erschienen.
Die im wesentlichen von Christine Hohnschopp zusammengestellte
Broschüre über das Zufluchtsland Brasilien versammelt Lebenszeugnisse,
Erinnerungen und literarische Texte von deutschen Emigranten, wobei
Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst berücksichtigt
werden. Eine instruktive Einführung Patrick von zur Mühlens, 51
Kurzbiographien namhafter Brasilien-Emigranten (neben Stefan Zweig
u.a. Susanne Bach, Ernst Feder, Johannes Hoffmann, Erich Koch-Weser,
Paula Ludwig) sowie eine Auswahlbibliographie zum Thema runden das
gelungene Bändchen ab.
Wie schon der Titel anzeigt, wird in Deutsche Literatur im Exil in den
Niederlanden neben dem Asylland für Emigranten auch der bedeutende
Produktionsort für deutsche Literatur gewürdigt. Demzufolge enthält
die von mehreren Mitarbeitern Der Deutschen Bibliothek erstellte
Schrift eine Bibliographie der in den Niederlanden erschienenen
Exil-Zeitschriften sowie ein Verzeichnis aller in Der Deutschen
Bibliothek (Deutsches Exilarchiv Frankfurt und Sammlung Exilliteratur
Leipzig) erhaltenen Bücher und Broschüren. Dieses Verzeichnis
entspricht nahezu einem Gesamtkatalog der deutschsprachigen Produktion
der holländischen Verlage in jenen Jahren. Das Ausstellungsbändchen
bietet darüber hinaus eine facettenreiche Anthologie von Briefen,
Berichten und Literatur über das Exil in den Niederlanden und eine aus
dem Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration
erarbeitete Liste bedeutender deutscher Emigranten (Beruf bzw.
Tätigkeitsgebiet, Lebensdaten, Zeit des Aufenthalts in den
Niederlanden). Lesenswert ist schließlich auch die kleine Einführung
Hans Würzners, die u.a. die beiden wichtigsten Exilverlage, Querido
und Allert de Lange, sowie Förderer und Autoren von deutscher
Literatur in den Niederlanden porträtiert. Nach so vielen Eindrücken
und Anregungen hätte eine kleine Auswahlbibliographie zum Thema
gutgetan. Dem positiven Gesamtbild kann dieses Manko freilich nicht
schaden. Wie das Brasilien-Buch sollte auch der Niederlande-Katalog in
keiner Bibliothek fehlen.
Achim Bonte
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