Im ersten Kapitel zeigt Baasner die enge Verquickung von nationaler
Selbstbehauptung und literarhistorischem Denken im 16. und 17.
Jahrhundert auf. Sie führte zur Ausbildung von zwei
literarhistorischen Grundpositionen, deren Anhänger zur Demonstration
nationaler Größe entweder die "gelehrte Aufarbeitung älterer Epochen"
forderten oder die Formulierung eigener literaturtheoretischer
Entwürfe auf der Basis früherer Texte beabsichtigten: Diese beiden
Positionen, so Baasner, bleiben auch im 18. und 19. Jahrhundert
bestimmend, weshalb die Literaturgeschichtsschreibung nur zögerlich
den Status einer eigenständigen Gattung erringt. Der Autor
berücksichtigt in seinen Ausführungen auch die Auswirkungen der
"italo-hispanischen Polemik um die spanische Literatur nach der
Ausweisung der Jesuiten 1767". Ein Blick auf die schriftstellerischen
und verlegerischen Aktivitäten des spanischen Gesandten in Rom,
Nicolás de Azara, sowie auf seine ambivalente Haltung gegenüber den
ausgewiesenen Jesuiten könnte hier vielleicht eine weitere
interessante spanische Perspektive eröffnen.[1]
Besonders großen Raum, die Hälfte der Arbeit, nimmt die Zeit von 1808
- 1868 ein. Auf eine kurze Betrachtung der
Literaturgeschichtsschreibung während der Romantik folgt eine
detaillierte Studie der Literaturkritik und -geschichte während der
época isabelina. Der Autor hat umfangreiches, z.T. noch nicht erfaßtes
Material über Literaturunterricht und Lehrpläne der segunda ense¤anza
und der Universitäten jener Zeit gesichtet, um die langsame
Emanzipation des Fachs "Literaturgeschichte" von dem traditionellen
"Poetik/Rhetorik-Unterricht" genau verfolgen zu können. Im letzten
Abschnitt seiner Arbeit wird schließlich Amador de los Ríos' Historia
crítica de la literatura espa¤ola als "Summe der universitären
Hispanistik" bis 1868 gewürdigt.
Der Autor unterstreicht wiederholt den Einfluß des Krausismo auf die
Literaturgeschichtsschreibung während der Regierungszeit Isabelas II.,
da er aber die Geschichtsphilosophie der Krausisten nur kurz erläutert
und ihre utilitaristisch geprägte Ästhetik außer Betracht läßt, wird
der krausistische Bodensatz jener Zeit, und besonders der einiger
Literaturgeschichten, nicht immer deutlich. So hätte eine
ausführlichere Beschäftigung mit dem Krausismo vielleicht die
Möglichkeit eröffnet, Sanz del Ríos' Bearbeitung der
Literaturgeschichte von Gervinus einzubeziehen und vor allem das Ideal
de la Humanidad unter Hinweis auf die Publikationen Ure¤as als die
Übersetzung von Krauses Tagblatt des Menschheitslebens und nicht des
Urbildes zu identifizieren (S. 449).[2] Eine wichtige Perspektive
eröffnet der Ausblick auf den nach 1868 in Spanien vorherrschenden
Krausopositivismo (S. 428), Amador de los Ríos jedoch als
Krausopositivisten einzuordnen, ist chronologisch wie inhaltlich zu
überdenken (S. 449).
Nicht nur der Neuigkeitscharakter des betretenen Forschungsfeldes,
sondern auch die theoretisch gut fundierten Überlegungen und die
wichtige Quellenarbeit zu Inhalt und Stellenwert der
Literaturgeschichte im spanischen Bildungssystem zeichnen Baasners
Arbeit aus. Sie ist jedem interessierten Hispanisten auch als Beispiel
von klar und gut formulierter Wissenschaftsliteratur zur Lektüre zu
empfehlen. Der Verlauf der Literaturgeschichtsschreibung in Spanien
nach 1868 wird hoffentlich bald in der von Baasner angeregten
Anschlußarbeit vorgelegt. Ebenso wie zur Wissenschaftsgeschichte und
Literaturgeschichtsschreibung der deutschen Hispanistik gibt es zu
diesem Thema bis dato nur Teilstudien.
1. Spanischsprachige "Klassiker" der Literaturgeschichte
Im Spanien der 90er Jahre scheint sich entgegen der internationalen
Tendenz der Boom nationaler Literaturgeschichtsschreibung
abzuschwächen, was jedoch eingedenk der Klage der Hispanisten
offensichtlich nicht aus der Tatsache resultiert, daß eine
überzeugende aktuelle Literaturgeschichte bereits vorliegt. Vielmehr
wird in den Universitäten weiterhin mit den 'Klassikern' gearbeitet,
d.h. mit Literaturgeschichten, die bereits in den 70er und 80er Jahren
erstmals aufgelegt worden sind.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum das in den Jahren 1971
- 1973 von englischen Hispanisten verfaßte und von R. O. Jones
herausgegebene Werk A literary history of Spain u.d.T. Historia de la
literatura espa¤ola alsbald ins Spanische übersetzt und immer wieder
neu aufgelegt wurde.[3] Es umfaßt sechs Bände, die jeweils von
ausgewiesenen Experten verfaßt wurden und einen guten Überblick über
die behandelten Epochen geben. Auch wenn im Vorwort darauf hingewiesen
wird, daß einheitliche Kriterien nur auf dem kleinsten Nenner
vereinbart wurden, so ist sie im Ganzen doch überraschend kohärent.
Auf eine kurze, aber informative historische Einleitung folgen
epochengeschichtliche Betrachtungen, die in der Regel nach dem
traditionellen Gattungsschema gegliedert sind. Die bewußte
Beschränkung auf kanonisierte Autoren ermöglicht eine gute
Gesamtdarstellung der spanischen Literatur. Leider ist das Werk
mittlerweile zum Teil veraltet und bedürfte einer völligen
Überarbeitung.
Unverminderter Beliebtheit erfreut sich ebenfalls die Historia de la
literatura espa¤ola von Juan Luis Alborg.[4] Sie bietet einen guten
epochen- und gattungsgeschichtlichen Überblick, der durch einzelne
Autorenporträts ergänzt wird. Die an den Anfang gestellten weit
ausholenden sozio-historischen Darstellungen vermitteln ein breites
Hintergrundwissen, in das anschließend die literarischen Werke
eingebettet werden. Diese Vorgehensweise geht jedoch auf Kosten der
Autoren- und Werkanalysen, die nur vereinzelt ausführlich vorgestellt
werden. Daher sollte sich der Benutzer des Alborg parallel immer mit
Teilstudien zu den zu betrachtenden Autoren versehen. - Mit einem
Sonderband, der sich nicht in die Zählung des Werkes einfügt,
bereitete Juan Luis Alborg seinem Publikum ein Überraschung: u.d.T.
Sobre crítica y críticos[5] publizierte er 1991 eine
"paréntesis teórico
que apenas tiene que ver con la presente historia".
Eine Literaturgeschichte anderer Art bietet die von Francisco Rico
herausgegebene Historia y crítica de la literatura espa¤ola (HCLE).[6]
Ihr Ziel ist es, die Geschichte und die aktuelle Forschungssituation
der literaturwissenschaftlichen Bemühungen um einen Text aufzuzeigen.
Ausgewiesene Experten zeichnen verantwortlich für die einzelnen Bände.
Brüche, Auslassungen und chronologische Sprünge, wie z.B. im Band 4
zum 18. Jahrhundert, erklären sich in der Regel aus der
autorenbezogenen Gliederung einzelner Abschnitte oder Werke. Trotzdem
ist die HCLE ein unverzichtbares Arbeitsinstrument für jeden
Hispanisten, da sie ein breitgefächertes Panorama der aktuellen
Forschungslage der internationalen Hispanistik bietet. Als besonders
nützlich erweist sich die Entscheidung Ricos, im Abstand von ungefähr
zehn Jahren einzelnen Bänden Supplemente zur Seite zu stellen.
Abschließend sollen kurz drei weitere Literaturgeschichten erwähnt
werden, die in Spanien zwar nicht die Aufnahme in den Olymp der
Literaturgeschichten gefunden haben, aber gerade für deutsche
Studierende sehr nützlich sind.
An der von Javier Huerta Calvo herausgegebenen Lectura crítica de la
literatura espa¤ola haben zahlreiche spanische
Literaturwissenschaftler mitgewirkt. Die 25 Bände müßten einzeln
besprochen werden, um ihrer unterschiedlichen Qualität und dem
variierenden Aufbau gerecht zu werden.[7] Die Bände haben einen geringen
Umfang und behandeln eine Gattung entweder über ein Jahrhundert oder
über eine Epoche hinweg, womit gravierende Auslassungen
vorprogrammiert sind. Trotzdem eignet sich diese Geschichte für den
Hispanistikunterricht im Grundstudium, da sie nur wenig Wissen
voraussetzt und mit Hilfe von guten Zusammenfassungen oder Schemata
einen ersten Einblick vermittelt. Die kurzen Textinterpretationen im
Anhang sind gute Beispiele für wissenschaftlich verfaßte comentarios
de textos.
Das 11 Bände umfassende Manual de literatura espa¤ola von Felipe B.
Pedraza Jiménez und Milagros Rodríguez Cáceres übersteigt den Umfang
der Lectura crítica de la literatura espa¤ola um ein Vielfaches.[8]
Es
bietet sich aus ähnlichen Gründen für Studenten im Grundstudium an.
Die ausführlichen historischen, soziologischen, linguistischen und
literaturwissenschaftlichen Erläuterungen zu jeder Epoche beinhalten
zahlreiche Informationen, die auch deutschen Studenten bekannt sein
sollten, deren Vergegenwärtigung oft aber sinnvoll ist. Einzelne
Autoren und Werke werden abgesehen von Ausnahmen nur sehr summarisch
vorgestellt. Zudem erleichtert eine starke Gliederung der Unterkapitel
die Orientierung sowie das Auffinden von Informationen.
Eine einbändige und erschwingliche Literaturgeschichte ist José García
López' Historia de la literatura espa¤ola, die in der 22. Auflage
vorliegt; sie kann deutschen Hispanistikstudenten aber nur mit
Vorbehalt empfohlen werden.[9] Das Werk ist einfach und übersichtlich
nach Epochen und Gattungen gegliedert, aber es verzichtet fast
gänzlich auf sozio-historische Informationen. Zahlreiche, inzwischen
etwas antiquiert wirkende Illustrationen lockern die Lektüre auf. Über
eine Einführung reicht die Historia jedoch nicht hinaus, da sowohl die
Bibliographie als auch die dargestellte Forschungslage dringend einer
Aktualisierung bedürfen. Zudem reicht das letzte Kapitel nur bis zum
Ende der Francozeit, woraus sich gewisse tendenzielle Darstellungen
erklären lassen.
Die Argumente, die in Spanien gegen eine Aufnahme dieser drei
Literaturgeschichten in den Kanon der Universitätsmaterialien
sprechen, sind vielfältig. Wichtige Gründe dürften zum einen die
unzureichenden theoretischen und methodologischen Grundlagen sein und
zum anderen die zahlreichen inhaltlichen Überlappungen mit dem
Abiturwissen spanischer Schüler über die spanische Literatur.
Ein Silberstreif am Horizont der spanischen
Literaturgeschichtsschreibung zeichnet sich jedoch ab: Soeben sind
Band 6 und 7 eines neuen, vielversprechenden Werkes bei Espasa-Calpe
erschienen.[10] Die beiden Bände behandeln das 18. Jahrhundert und wurden
von Victor García de la Concha herausgegeben. Sie sind Teil der auf 12
Bände angelegten Historia de la literatura espa¤ola, für deren
Herausgabe Guillermo Carnero verantwortlich zeichnet. Die für das
kommende Jahr geplanten Bände zum 19. Jahrhundert werden zeigen, ob
der vielversprechende Anfang eine eben solche Fortsetzung findet. Eine
ausführliche Rezension ist dann für IFB vorgesehen.
2. Neue deutschsprachige Geschichten der spanischen Literatur
In Deutschland hat die Geschichtsschreibung zur spanischen Literatur
in den letzten Jahren eine völlig andere Entwicklung genommen als in
Spanien. Bis zu Beginn der 90er Jahre hatten der des Spanischen
unkundige Leser und die Fachbibliotheken die Wahl zwischen Franzbachs
Abriß der spanischen und portugiesischen Literaturgeschichte in
Tabellen von 1968[11] und der dreibändigen Geschichte der
spanischen
Literatur von Hans Flasche (1977 - 1989).[12] Ab 1990 erschienen dann in
kurzer Folge vier neue spanische Literaturgeschichten.
Für die beträchtlich gestiegene Zahl der Hispanistikstudenten und
interessierten Laien wurde der Erwerb einer spanischen
Literaturgeschichte somit plötzlich zur Qual der Wahl, die ihnen
Klappentexte und Verlagsprospekte nicht immer erleichterten. Gemeinsam
ist allen vier Werken, daß sie in den Universitäten sowohl als
kanonisierte Unterrichtsmaterialien als auch in den
Bibliotheksbeständen präsent sind. Die einbändigen Werke von
Strosetzki, Wittschier und Franzbach richten sich an den gleichen
Leserkreis; eine vergleichende Darstellung bietet sich daher an. Eine
gesonderte Besprechung erfordert Gumbrechts Literaturgeschichte, da
sie sich sowohl vom Umfang her wie auch dem Anspruch nach deutlich von
den anderen Werken unterscheidet.
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