Das in fünf Kurzkapitel gegliederte Vorwort überrascht zunächst mit ausführlichen und lesenswerten Darlegungen. Gumbrecht hat sein Werk nicht als "literarhistorisches Kompendium für Hispanistik-Studenten" konzipiert, da "die Zahl solcher Kompendien [...] den Grenzwert des studientechnisch Notwendigen schon lange überschritten [habe]". Eine erstaunliche Aussage für eine 1990 in deutscher Sprache publizierte Literaturgeschichte, stand den Studenten zu diesem Zeitpunkt doch nur der 1968 erschienene Abriß von Franzbach als einziges für ihre Bedürfnisse konzipiertes Studienbuch zur Verfügung. Während der Autor bewußt auf eine positive Definition der Zielgruppe seines Werkes verzichtet, wird sie im Klappentext unbestimmt als "breiter Leserkreis" beschrieben. Eine nähere Betrachtung des Werkes kann vielleicht genauere Auskunft geben.
Die Literaturgeschichte ist in sieben Kapitel gegliedert. Sie tragen anstelle von Überschriften Zeitraumangaben, die sich nur bedingt mit dem etablierten Epochenschema decken. Den einzelnen Kapiteln gehen kurze Zusammenfassungen voraus, die in einer Gesamtschau bereits am Anfang des Buches abgedruckt sind. Gumbrecht läßt seine Literaturgeschichte im Mittelalter beginnen, genauer mit den Jarchas. Seinen Literaturbegriff gründet er auf das "Konzept des Spiels" (S. 19) und stellt dieses in den Mittelpunkt seiner Interpretation der spanischen Literatur des 12. bis 15. Jahrhunderts. Aus der Polarität zwischen klerikalen Normen und höfisch-intellektuellen Spielen erklärt er das Nebeneinander von Berceos Marienmirakeln und den Cantigas von Alfonso X. Mit zunehmender Abschottung des Hofes von der Außenwelt wächst die Distanz zwischen höfischer Spielwelt und Alltagswelt, woraus "Subjektivität und neuzeitliche Kommunikationsformen in Spanien" entstehen. Somit führt der Autor seine "hoffentlich unübersehbare historiographische Hauptthese" ein, derzufolge die Besonderheit der spanischen Kultur und Literatur Teil einer sehr frühen "Sonderentwicklung der mentalen Figur 'Subjektivität' in der spanischen Geschichte" sei. Da diese Subjektivität aber seit der Gegenreformation von der staatlichen Macht unterdrückt worden ist, haben sich über Jahrhunderte Spannungsverhältnisse ausgebildet (S. 18). Die Interpretation der mittelalterlichen Texte vor dem Hintergrund des ludischen Konzepts und der Subjektivitätsthese eröffnet neue Sichtweisen auf die mittelalterliche Literatur, die in eine gute sozio-historische Epochendarstellung eingebettet sind.
In den folgenden Kapiteln verschiebt sich der Schwerpunkt der Darstellung der Literatur. So nehmen in der ausführlichen Betrachtung des siglo de oro z.B. funktionsgeschichtliche Überlegungen eine zentrale Rolle ein, die wiederum eng mit einer neuen These verwoben sind: der Theatralisierung des Alltags. Erneut gelingt dem Autor die Verknüpfung von interessanten Thesen und literaturtheoretischen Konzeptionen mit ungewöhnlicher historiographischer Dokumentation, gut erzählten Anekdoten und Biographien. Einzelwerke und Epochenstruktur werden so immer wieder überzeugend zu einer Gesamtdarstellung verklammert.
Da Gumbrecht den etablierten Epochenbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung kritisch gegenübersteht, bemüht er sich folglich nicht, den Beitrag der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts zur Aufklärung zu erläutern. Vielmehr versucht er aufzuzeigen, daß die Literatur zwischen 1700 und 1833 im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Reformern, d.h. vor dem Hintergrund des entstehenden Mythos der dos Espa¤as ensteht. Die Bedeutung von geistes- und sozialgeschichtlichen Faktoren rückt somit immer weiter in den Vordergrund. Daraus erklärt sich die verkürzende Darstellung der Entwicklung der Narrativik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie der Werke der generación del 98. Die Dichte der historischen Informationen weicht minuziösen punktuellen Informationen, die einzelne Schlaglichter auf die Epochen werfen.
Im letzten Kapitel, 1939 - 1989, wird vor dem Leser eine fesselnde
"Kulturgeschichte" (Klappentext) ausgebreitet. Der Autor scheint hier
der im Vorwort beschriebenen politischen Motivation seines
Unterfangens Tribut zu zollen und gewährt nur Seitenblicke auf die
Literatur. Besonders hervorzuheben sind die guten Darstellungen der
spanischen Exilliteratur, der frankistischen Ästhetik und die
wiederholten intermedialen Betrachtungen. In seiner Repräsentation der
jüngeren Schriftstellergeneration beschränkt sich Gumbrecht auf die
Erwähnung von Rosa Montero und Francisco Umral. Ein kurzer Ausblick
auf die Werke von z.B. Mendoza, Marías und Mú¤oz Molina wäre aber auch
schon 1989 wünschenswert gewesen. In bezug auf einige "Überbewertungen
und fehlerhafte Einschätzungen" in diesem Kapitel sei auf die
Rezension von Walter Haubrich verwiesen.[1]
Hans Ulrich Gumbrecht ist mit seiner Geschichte der Entwurf einer
(post-)modernen Literaturgeschichte gelungen, der nicht zuletzt
aufgrund seiner sprachlichen Prägnanz überzeugt. Mit dem Verzicht auf
die Aufarbeitung der ausufernden Forschungsliteratur, die von einem
Wissenschaftler heute nicht mehr zu leisten ist, hat der Autor sich
Raum geschaffen, um auf der Grundlage postmodernistischer
Interpretationen der Literaturgeschichtsschreibung neue Wege zu
weisen. Einem außerhalb der postmodernistischen Diskussion stehenden
Leser, d.h. einem "breiten Leserkreis", bleiben jedoch ohne
vorbereitende Lektüre z.B. Foucaults, Bachtins oder Luhmanns viele
interessante Lesarten und provozierende Thesen verschlossen. Vor
diesem Hintergrund ist dem Autor daher beizupflichten, daß sein Werk
für den einführenden Gebrauch der Fachstudenten "zu lang,
unübersichtlich und wohl auch zu wenig `objektivistisch' geraten" ist
(S. 15). Gumbrechts Buch als eine "Kulturgeschichte" zu bezeichnen
wird ihm aber auch nicht gerecht, handelt es sich doch um einen
Gesamtüberblick über die spanische Literatur in deutscher Sprache, wie
er seit Vossler und Pfandl nicht mehr versucht wurde.[2] Es ist eine der
Geschichten der spanischen Literatur, die in Seminar- und
Universitätsbibliotheken, sowie in der Privatbibliothek eines
Hispanisten nicht fehlen sollte. Leider gestattet der Preis es wohl
nur den wenigsten fortgeschrittenen Studierenden, sich ein Exemplar in
greifbare Nähe zu stellen.
Um sich einen Überblick über die spanische Literaturproduktion nach
1975 zu verschaffen, bedarf es einer Ergänzung zu den vier genannten
deutschsprachigen Literaturgeschichten: Die Aufsatzsammlung
Aufbrüche,[3] die auch ins Spanische übersetzt worden ist,[4] kann diese
Lücke schließen. Sie enthält vier Beiträge zur jüngsten
gattungsgeschichtlichen Entwicklung von Roman, Krimi, Theater und
Lyrik, denen sechsundzwanzig Einzelporträts von zeitgenössischen
Autoren und ausgewählten Werken an die Seite gestellt werden.
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