Die noch lange nicht vollendete Erschließung der mittelalterlichen Handschriften in Deutschland ruht heute im wesentlichen auf drei Säulen: der mehr oder minder "einfachen" Inventarisierung der Bestände, der detaillierten inhaltlichen, kodikologischen und buchhistorischen Aufarbeitung der einzelnen Handschriften in den sogenannten Textkatalogen und den für illuminierte Handschriften üblichen kunsthistorischen Spezialkatalogen, die ergänzend zu den ersten beiden Katalogtypen hinzutreten können.
Während die Inventarisierung der Handschriften, deren jüngstes
Beispiel in den Bänden des rheinischen Handschriftencensus[1] vorliegt,
so alt wie die Katalogisierung von Bibliotheksbeständen überhaupt ist,
sind der Textkatalog und der kunsthistorische Spezialkatalog Kinder
aus dem historisch-wissenschaftlichen Geist des ausgehenden 19.
Jahrhunderts, die in ihrer paradigmatischen Form fast gleichzeitig das
Licht der Welt erblickt haben. Während Valentin Roses Berliner
Textkataloge aus den Jahren 1893 - 1905,[2] die mit Recht als der Beginn
des umfassenden wissenschaftlichen Handschriftenkatalogs betrachtet
werden,[3] ausschließlich vom Geist der philologisch-historischen
Methode durchdrungen sind und dem spektakulärsten Aspekt des
mittelalterlichen Buches, dem Buchschmuck und den Miniaturen, ein nur
rudimentäres Interesse entgegenbrachten, sind die von Franz Wickhoff,
dem Kollegen Alois Riegls an der Wiener Universität, seit 1896
vorbereiteten, seit 1905 herausgegebenen Bände des Beschreibenden
Verzeichnisses der illuminierten Handschriften Österreichs[4] vom
ästhetischen Geist des Fin de siècle und dem die bloße Kennerschaft
und den Tatsachenpositivismus überwindenden stilhistorischen Interesse
der Wiener kunsthistorischen Schule geprägt. Die in den Codices
überlieferten Texte werden zwar notiert, aber sie spielen in diesem
Unternehmen nur eine Nebenrolle; im Zentrum der Aufmerksamkeit steht
allein der künstlerische Schmuck der mittelalterlichen Handschriften,
deren Initialen und Miniaturen mindestens durch eine bezeichnende
Abbildung dokumentiert sind.
Das Wiener Modell eines kunsthistorischen Spezialkataloges, der in der
Hauptsache auf den kunsthistorischen Befund in den mittelalterlichen
Handschriften abzielte, fand, wenn auch in reduzierter Form, schon in
den zwanziger Jahren in Deutschland - vor allem in Berlin, Heidelberg
und Frankfurt - und nach dem zweiten Weltkrieg in der Schweiz, in
Frankreich und England seine erklärten Nachahmer.[5] Die
wissenschaftliche Handschriftenkatalogisierung im Deutschland der
Nachkriegszeit konzentrierte sich seit dem Ende der fünfziger Jahre
dagegen zunächst ausschließlich auf die "Textkatalogisierung"; denn
dort war der Nachholbedarf - gemessen am Reichtum der Bestände - im
internationalen Vergleich am größten. An die großen kunsthistorischen
Spezialkataloge aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren knüpfte
man mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erst in der
Mitte der siebziger Jahre wieder an, als das Beispiel der
ausländischen Spezialkataloge und ein umfassender, die
philologisch-textlichen Aspekte der Handschriftenanalyse
übersteigender Begriff von Kodikologie die Erinnerung an die
verschütteten eigenen Traditionen wieder wachrief.
Seit 1976 hat sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft der Kataloge
der illuminierten Handschriften in Deutschland planend und seit 1978
fördernd angenommen. Ein knappes Dutzend kunsthistorischer
Spezialkataloge[6] ist seitdem zu den illuminierten
Handschriftenbeständen aus karolingischer, romanischer und gotischer
Zeit in Bamberg, Berlin, Fulda, Hildesheim, München und Stuttgart
erschienen, darunter die beiden hier vorzustellenden Bände.
2. Ziele und Methoden der kunsthistorischen
Handschriftenkatalogisierung
Die systematische Erschließung der illuminierten Handschriften in
Deutschland soll das kunsthistorisch relevante Quellenmaterial in den
einzelnen Handschriften verbal beschreiben und bildlich dokumentieren.
In einer Vielzahl von Fällen wird damit erstmals publiziertes Material
einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekanntgemacht. Diese
Zielsetzung des Gesamtprojektes reicht weit über das engere Interesse
der eigentlichen Erforschung der Buchmalerei hinaus. Denn stilistische
Wandlungen, die beispielsweise mit allgemeinen kulturellen oder gar
nur dynastischen Verschiebungen einhergehen, betreffen die gesamte
Mediävistik ebenso wie inhaltlich-ikonographische Fragen der
Buchmalerei. Didaktische Bildprogramme, genealogische Schemata, die
Illuminationszyklen juristischer oder historischer Handschriften - um
nur wenige Beispiele zu nennen - interessieren über die
Kunstgeschichte hinaus auch die Universitäts- und
Mentalitätsgeschichte, die Geschichte der Rechte und die der
allgemeinen Politik. Die detaillierte Analyse des früher kaum
beachteten dekorativen Buchschmucks, also vor allem die des
nicht-figürlichen Initialschmucks, erlaubt, wie die Forschungen der
letzten Jahrzehnte gezeigt haben, vielfach präzisere Aussagen zur
Lokalisierung und Datierung von Handschriften als die Paläographie.
Dieser kunsthistorische Spezialkatalog soll wegen seiner fast
ausschließlichen Ausrichtung auf den Buchschmuck der mittelalterlichen
Handschriften zu den vorliegenden oder geplanten allgemeinen
Textkatalogen derselben Handschriften nur ergänzend hinzutreten. Er
erfordert für seine Realisierung den kunsthistorisch in Buchschmuck
und Buchmalerei sowie den mediävistisch ausgewiesenen Spezialisten.
Die Einheitlichkeit dieser Kataloggattung soll - wie bei den
allgemeinen Handschriftenkatalogen auch - durch
Bearbeitungsrichtlinien erreicht werden, die in den siebziger Jahren
für die Katalogisierung der illuminierten Handschriften der
Bayerischen Staatsbibliothek in München erarbeitet wurden und
ausdrücklich auf diese Spezialkatalogisierung zugeschnitten sind.[7]
Methodisch unterscheiden sich die Kataloge der illuminierten
Handschriften von den Textkatalogen dadurch, daß "sie die
Beschreibungen der einschlägigen Handschriften nicht nach der
Signaturenabfolge, sondern nach der Zugehörigkeit zu regionalen oder
nationalen Schulen, innerhalb der Schulen nach kunsthistorischen
Epochen, innerhalb der Epochen in chronologisch aufsteigender Folge
anordnen."[8] Die kodikologische Beschreibung der Handschrift und die
Angaben zum Textinhalt der Bände werden sehr kurz gehalten, wenn sie
nicht teilweise sogar gänzlich entfallen. Das Hauptaugenmerk dieses
Katalogisierungsunternehmens liegt, wie bemerkt, auf der Beschreibung
der künstlerischen Ausstattung der einzelnen Bände, die sich - grob
gesprochen - in drei Hauptabschnitte untergliedern läßt: Einige
summarische Bemerkungen, hierarchisch nach der Bedeutung der einzelnen
Ausstattungsmerkmale gegliedert, beschreiben schlagwortartig die
Schmuckelemente der Handschrift insgesamt; eine ebenfalls hierarchisch
nach Gruppen gegliederte detaillierte Einzelbeschreibung des
Initialtypus oder der einzelnen Initialen, der Zierrahmen, Miniaturen,
Schemata, Diagramme usw. schließt sich an. Den Abschluß der
kunsthistorischen Beschreibung bilden ein zusammenfassender
Textabschnitt über den Stil und die kunsthistorische Einordnung der
einzelnen Ausstattungselemente sowie die mit der Handschrift insgesamt
sich beschäftigende Literatur. Mit der verbalen Beschreibung der
Ausstattungselemente geht eine nicht bloß exemplarische, sondern eine
extensive Bilddokumentation der Handschriften einher, die sowohl die
figürlich-szenischen Darstellungen wie auch den ornamentalen Schmuck
der Codices in aller Breite bekannt macht. Es ist diese reiche
Bebilderung der Kataloge illuminierter Handschriften, die den
außerordentlich hohen Gebrauchswert dieser Bände für jede weitere
wissenschaftliche sowie vergleichende stil- und
provenienzgeschichtliche Arbeit an mittelalterlichen Handschriften
ausmacht.
Obwohl die Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die
Katalogisierung illuminierter Handschriften standardisierte Kataloge
anstreben, ist es immer wieder reizvoll zu sehen, wie unterschiedlich
die Resultate letztlich sind, wenn verschiedene wissenschaftliche
Temperamente sich der gleichen Sache annehmen. Die beiden hier
vorzustellenden Kataloge illuminierter Handschriften in Bamberg und
Stuttgart beweisen es aufs neue.
Zurück an den Bildanfang