Die Entstehungsgeschichte des Bandes war nicht einfach. Ein seit
langem festliegendes Mengengerüst, der Bearbeiterwechsel von Ulrich
Kuder, der am vorliegenden Katalog noch mit 22 Beschreibungen
beteiligt ist, zur Autorin führten bei der Auswahl der sachlich
zusammengehörigen Handschriften zu Problemen, die sich im vorliegenden
Band durch Nachträge zu den beiden älteren Bänden[2] und Vorgriffe auf
die folgenden Bände darstellen. Dieses Problem ist jedoch kaum der
Autorin anzurechnen, denn es hat selbstverständlich auch strukturelle
Gründe. Die in der Sache natürlich richtige Entscheidung, die
kunsthistorischen Spezialkataloge nicht nach der Signaturenfolge,
sondern innerhalb der Schulen und Epochen chronologisch zu ordnen,
muß immer wieder zu solchen Überschneidungen führen.
Von den etwa 800 illuminierten Handschriften der Württembergischen
Landesbibliothek beschreiben die Autoren 108 gotische Handschriften
und dokumentieren sie in 447 Abbildungen (davon 6 farbig) in
Originalgröße. Von den beschriebenen Handschriften sind 13 im dritten
oder vierten Viertel des 12. Jahrhunderts, 86 im 13. Jahrhundert und 9
zu Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden. Ihrem Entstehungsort nach
sind 45 Handschriften deutscher, 49 französischer, sechs
italienischer, vier vielleicht englischer und vier unbestimmter
Herkunft. Die Sprache all dieser Bände ist, wenn man von den beiden
volkssprachlichen Ausnahmen, zwei deutschen Handschriften, absieht,
bezeichnenderweise durchweg Latein.
Anders als in Bamberg, wo der mittelalterliche Bücherbestand von Dom
und Kloster Michelsberg auch heute noch unweit seines Entstehungsortes
aufbewahrt wird und wo Herkunft und Vorbesitzer vielfach noch
identisch sind, ist der hier zu behandelnde mittelalterliche
Handschriftenbestand der Stuttgarter Bibliothek seiner Provenienz nach
sehr unterschiedlich zusammengesetzt und teilweise auf recht
verschlungenen Wegen in die Sammlung gelangt. Die Stuttgarter
Bibliothek verdankt natürlich wie so viele andere auch einen großen
Teil ihres Handschriftenbesitzes der Säkularisation am Ende des Alten
Reiches. Aus dem Bestand der zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der
Landesbibliothek oder der Hofbibliothek (seit 1884 in der
Landesbibliothek aufbewahrt) übernommenen Bibliotheksbände beschreibt
der vorliegende Katalog 28 Handschriften aus der Benediktinerabtei
Weingarten (bei Ravensburg), darunter 12 ursprünglich aus der
Dombibliothek Konstanz stammende Handschriften, 18 Handschriften aus
der Benediktinerabtei Zwiefalten (bei Riedlingen), 12 aus dem
Zisterzienserkloster Schöntal (Kr. Künzelsau), fünf aus der
Deutschordenskommende Mergentheim und eine aus dem Chorfrauenstift
Oberstenfeld (Kr. Ludwigsburg). Die 13 Handschriften aus dem Stift
Komburg (bei Schwäbisch Hall) stammen überwiegend aus den Bibliotheken
der Humanisten Erasmus Neustetter und Oswald von Eck. Aus den
kirchlichen Bibliotheken Stuttgarts wurden dagegen nur vier
Handschriften übernommen, während immerhin 26 Bände auf unbekanntem
Weg, vermutlich vielfach erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch
Kauf in die Sammlung gelangten.
Der auf diese Weise zusammengekommene Handschriftenbestand weist -
wiederum verglichen mit der Bamberger Sammlung - zwei
charakteristische Besonderheiten auf. Vergleicht man nämlich die
Statistik der Vorbesitzer der Handschriften mit der der
Entstehungsorte, so fällt auf, daß - anders als in Bamberg -
Entstehungsort und Vorbesitzer nur in Ausnahmefällen übereinstimmen.
Stammten in Bamberg etwa zwei Drittel der beschriebenen Handschriften
auch aus dem Michelsberger Skriptorium, so gilt das im Falle des
Stuttgarter Bestandes nur noch für zwei von 18 aus Zwiefalten und
ebenfalls für zwei von 16 aus Weingarten stammende Handschriften
- also aus zwei Abteien, deren Skriptorien im 12. Jahrhundert von
großer Bedeutung waren. Zum zweiten ist der Anteil der importierten
Handschriften vor allem aus Frankreich, aber auch aus Italien in
Stuttgart noch höher als in Bamberg. Der sich dort bereits gegen Ende
des 12. Jahrhunderts abzeichnende Trend hat sich, wie die Stuttgarter
Bestände zeigen, im 13. Jahrhundert offensichtlich noch verstärkt.
Damit dürfte eine für den gesamten Bereich des mittelalterlichen
Deutschlands im 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts
geltende Tendenz benannt sein. Denn man kann mit guten Gründen
behaupten, daß die in diesem Katalogband vereinigte, durch das
Wechselspiel von Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall[3]
entstandene Auswahl von Handschriften einen repräsentativen
Querschnitt durch die Buchproduktion des 13. Jahrhunderts darstellt.
Die Gründe für die beiden oben genannten Erscheinungsformen verweisen
auf einen grundsätzlichen Wandel in der mittelalterlichen
Buchproduktion, der, im 12. Jahrhundert beginnend, sich im 13.
Jahrhundert verstärkt hat, nämlich auf den Übergang vom klösterlichen
Skriptorium zur städtischen Buchproduktion, zur kommerziellen, von
Laien betriebenen Werkstatt. Hintergrund dieses Phänomens ist der
Aufschwung des 12. Jahrhunderts, oft nur als "Renaissance"
beschrieben. Er ist im wesentlichen zunächst ein sozialer und
ökonomischer Wachstumsprozeß, in dessen Folge Bevölkerungswachstum,
allgemeine Entfaltung städtischen Lebens, Konzentration und
Bürokratisierung der politischen Herrschaft und damit der Bedarf an
"Funktionären" zunehmen. Rationale Formen der Erziehung,
Schriftlichkeit und Fachbildung vor allem in Recht, Medizin und
Theologie gewinnen an Bedeutung und werden zur lukrativen Chance. Die
Zahl der Lehrer, Schüler und Schulen steigt erheblich, wie Guibert von
Nogent um 1115 einmal bemerkt. Der Bedarf an Büchern wächst parallel
dazu naturgemäß mit. Die sich entfaltenden Schulen konzentrieren sich
in den städtischen Kernlandschaften Europas, vor allem im nördlichen
Frankreich und in Norditalien. Dort entstehen in verwickelten
Prozessen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts dann auch die
ältesten europäischen Universitäten. In der gleichen Zeit werden
dagegen die schulischen Aktivitäten der traditionellen Klöster auf ein
Minimum reduziert. Eine Anpassung an die neue Welt gelingt dann erst
wieder den Mendikantenorden mit ihren städtischen Niederlassungen und
den dazugehörigen "studia".
In ihrer materialreichen, weit ausgreifenden Einleitung zum
Katalogband macht die Autorin die Ablösung der Klosterskriptorien
durch professionelle städtische Werkstätten und damit auch das häufige
Auseinanderfallen von Entstehungsort und Bibliotheksheimat völlig zu
Recht zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und zum Angelpunkt ihrer
Kataloggliederung. Die Handschriften werden nicht mehr - wie in den
Katalogen der romanischen Handschriften - nach Provenienzen geordnet,
sondern nach Entstehungsregionen oder Entstehungsorten. Diese
neuartige, sinnvolle und sachlich begründete Entscheidung ist die
Frucht einer intensiven und konsequenten Beschäftigung der Autorin vor
allem mit der neueren angelsächsischen und französischen Forschung zur
Buchproduktion des Hochmittelalters, mit den Arbeiten von Robert
Branner, Mary und Richard Rouse, Christopher De Hamel, Mary
Carruthers, Jonathan J.G. Alexander, François Avril, Patricia
Stirnemann u.a. Die Tendenz der Autorin jedoch, die oben kurz
angedeuteten Entwicklungen des 12. und 13. Jahrhunderts aus einer
überwiegend kunsthistorischen Perspektive zu betrachten, verstellt ihr
gelegentlich ein wenig den Zugang zur historischen Wirklichkeit von
Schule und Universität. Auch ihre Neigung, sehr heterogene
Sachverhalte unter dem stilgeschichtlichen Begriff der "Gotik" zu
subsumieren, führt nicht immer zu ganz glücklichen Formulierungen.[4]
Doch diese meist stilistischen Ungenauigkeiten, die auf eine mangelnde
Vertrautheit mit den Fachwissenschaften der mittelalterlichen
Universität hinzuweisen scheinen, bleiben angesichts der gewaltigen
Arbeitsleistung der Autorin im Bereich ihres eigenen Fachgebietes,
nämlich dem der kunsthistorischen Analyse des Buchschmucks, eine
marginale Erscheinung; denn für den wesentlichen Inhalt des
Katalogbandes haben sie keine spürbaren Konsequenzen.
Eine veränderte Form des handschriftlichen Buches fordert auch eine
veränderte Methode der Beschreibung. Die Fleuronnéeinitiale ist
bekanntlich der für den gotischen Buchschmuck charakteristische
Initialtyp. Dieser Form der Initiale, über Jahrzehnte hinweg jedoch
auch von der kunsthistorischen Forschung mehr oder minder ignoriert,
wird im vorliegenden Band nun die Aufmerksamkeit zuteil, die ihr
gebührt. Das Fleuronnée wird ebenso detailliert beschrieben wie der
gemalte Buchschmuck und in seinen eigentümlichsten Formen für jede
Handschrift auch bildlich dokumentiert. Die für dieses Unterfangen
nötige Begrifflichkeit, die auf gemeinsame Anstrengungen aller
DFG-Katalogisatoren der illuminierten Handschriften zurückgeht, stellt
die Autorin in einem kurzen Überblick vor (S. 45).
Der Fülle der Einzelbeobachtungen in der Einleitung und in den
Beschreibungen von Ulrich Kuder und Christine Sauer sowie die Vielzahl
kunsthistorischer Bezüge zu Parallelhandschriften können in dieser
kurzen Anzeige des Bandes nicht einmal grob angedeutet, geschweige
denn im einzelnen besprochen werden. Wenige Hinweise müssen hier
deshalb genügen. Das für die Ausstattung von Handschriften
französischer Herkunft charakteristische Layout mit hierarchischer
Seiteneinteilung, Seitentitel, Kapitelüberschriften,
Initialenhierarchie, Initialschmuck im Channel Style u.a. wird an dem
reichen Stuttgarter Bestand von glossierten Bibeln des 12.
Jahrhunderts und an den im 13. Jahrhundert massenhaft produzierten
Pariser Bibeln ohne Kommentar exemplifiziert. Eine tabellarische
Übersicht für die überlieferten Textteile und die typischen
Ausstattungselemente dieser zuletzt genannten Buchgattung (S. 207
- 219) erleichtert die vergleichende Analyse dieser Handschriften
erheblich. Eine herausragende Bologneser Bibel (Kat. Nr. 100) verweist
durch ihre textlichen und ikonographischen Besonderheiten trotz aller
Verwandtschaft zur Pariser Bibelproduktion auf die intellektuellen und
stilistischen Differenzen zwischen der französischen und
norditalienischen Universität.
Die herausragenden Stücke der Buchproduktion deutscher Herkunft sind
die detailliert beschriebenen Prachtpsalterien der Stuttgarter
Bibliothek, der Waldkirch-Psalter und der Oberndorfer Psalter (Kat.
Nr. 16 und Kat. Nr. 19), der in seinem Originaleinband erhaltene
Comburger Psalter (Kat. Nr. 30) und als absolutes Spitzenstück, als
Vertreter des Zackenstils, der vom Landgrafen Hermann von Thüringen
und seiner zweiten Gemahlin Sophia in Auftrag gegebene
Landgrafenpsalter (Kat. Nr. 39). Doch die Bedeutung der Stuttgarter
Katalogisierung der Handschriften deutscher Herkunft liegt nicht nur
in der Beschreibung der Zimelien und der weniger bekannten Stücke,
sondern auch in dem kunst- wie sozialgeschichtlich gleichermaßen
wichtigen Nachweis von kommerziell arbeitenden städtischen
Laienateliers mit standardisiertem Formenrepertoire in Regensburg,
Konstanz und Zürich. Diese Ateliers sind seit dem zweiten Viertel,
verstärkt seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbar, damit etwa
einhundert Jahre später als in Paris. In den Umkreis dieser
Werkstätten gehört auch die Weingartner Liederhandschrift (Kat. Nr.
3), die intimere Schwester der Manesse-Handschrift.
Ebenso wie im Bamberger Katalog folgen auch hier die Beschreibungen
der einzelnen Handschriften den DFG-Richtlinien; die schon erwähnte
Tabelle zur Ausstattung der Pariser Bibeln, Signaturenkonkordanz,
Abbildungsverzeichnis, zwei Register (ein Personen-, Orts- und
Sachregister sowie ein Spezialregister für Buchschmuck, Ikonographie
und Einband) sowie ein Verzeichnis der Handschriften in
chronologischer Reihung erschließen den Band.
Die beiden hier besprochenen Kataloge lassen den Rezensenten hoffen,
daß die beiden Autorinnen den vorgelegten Bänden in überschaubarer
Zeit weitere Kataloge in gleich hervorragender Qualität folgen lassen
werden. Wenn allem Lob zum Trotz auch hier ein Wermutstropfen bleibt,
so ist dies nicht von den Autorinnen, sondern wohl von den Verlagen
und der DFG zu verantworten. Die Präsentation von Beschreibungsteil
und Abbildungsteil bei beiden Katalogen in einem einzigen Band - eine
Praxis, die bei den Stuttgarter Katalogen leider schon lange üblich
ist - schränkt die Benutzbarkeit der Bände mehr als nötig ein; denn
das ständige Hin- und Herblättern zwischen Beschreibung und bildlicher
Dokumentation erschwert den Nachvollzug der formalen und stilistischen
Argumentationsgänge der Autorinnen in unerträglichem Maß.
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