Beibehalten sind die alphabetische Anlage mit enzyklopädisch
weitgefaßten Stichwörtern. Ihre veränderte Auswahl zeigt, wie sehr
eine intensive Forschung in den letzten Dekaden unser Bild von der
Literaturgeschichte durch die Erschließung ganz neuer Felder verändert
hat. Da wird Literaturgeschichte zum einen gar nicht mehr als
"Nationalphilologie" betrieben, sondern durchweg komparatistisch, wie
etwa der große Artikel Europäische Literaturen (Wirkung in
Deutschland) von Achim Hölter belegt. Da hat die von Arthur Henkel und
Albrecht Schöne mit ihrem großen Handbuch Emblemata[1] begonnene
Emblematik-Forschung die Einsicht vermittelt, daß man ohne die
Kenntnis dieser spezifischen Bildlichkeit die Kultur des 17. und 18.
Jahrhunderts nicht verstehen kann.[2] Die Artikel Erbauungsliteratur
(Dietmar Peil) und Schäferdichtung (Klaus Garber) belegen, daß die
jüngere Literaturwissenschaft ganze Gattungen wiederentdeckt hat. Mit
Alfred Estermann behandelt einer der besten Kenner das
Zeitschriftenwesen. Vor wenigen Jahrzehnten von den Literarhistorikern
kaum beachtet, ist die Zeitschrift als Schlüsselmedium erkannt. Auch
die Kohärenz literarischer Gruppenbildung gründet ganz wesentlich in
diesem Medium, und so rückt derselbe Autor in einem eigenen Artikel
denn auch das Phänomen Dichterkreise/Koproduktionen in den Blick.
Auch die zahlreichen methodischen und literaturtheoretischen
Wandlungen, denen die Literaturwissenschaft im letzten
Vierteljahrhundert unterworfen gewesen ist, spiegeln sich in dem neuen
Lexikon. Damit sind nicht die vielen modischen Eintagsfliegen gemeint,
von denen eine "Diskussionswissenschaft" offenbar unvermeidlich
heimgesucht wird, sondern solche neuen methodischen Ansätze, die ihre
Ergiebigkeit in der Anwendung auf literarische Phänomene tatsächlich
erwiesen haben. Wer dazu Beispiele sucht, findet sie in den Artikeln
zu Ästhetik, Hermeneutik, Intertextualität, Lesen, Literaturtheorie
usw. Überall wird die enge Verbindung von Literaturwissenschaft und
Philosophie sichtbar, sei es bei subtileren hermeneutischen Verfahren,
beim Einzug der Diskursanalyse ins literaturwissenschaftliche
Methodenarsenal oder bei der verbreiteten Ausrichtung
poststrukturalistischer Textanalyse am philosophischen Verfahren der
Dekonstruktion.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß die traditionellen
Teilgebiete der Literaturwissenschaft (Gattungen, Rhetorik, Epochen
usw.) angemessen berücksichtigt sind, ja daß die erwähnten neuen
methodischen Ansätze usw. gerade im Kontext solcher Teilgebiete
abgehandelt werden, wenn sie sich dort nachhaltig ausgewirkt haben.
Alle Artikel enthalten weiterführende Bibliographien, die sich durch
die Auswahl der wichtigsten - überwiegend monographischen -
Veröffentlichungen auszeichnen, statt durch erdrückende Titelmengen
abzuschrecken. Die über 2000 Textseiten werden durch ein sorgfältig
gearbeitetes Register erschlossen, in dem alle Titel durch Kursive
hervorgehoben sind.
Die Artikel laden zu zusammenhängender Lektüre ein,[3] zumal sie in
erfreulich unprätentiöser Diktion daherkommen. Nicht nur zum
punktuellen Nachschlagen, sondern zu ergänzender Lektüre sollten
Studenten literaturwissenschaftlicher Disziplinen das neue Lexikon
neben einer systematischen Einführung bzw. einem
literaturgeschichtlichen Abriß stets in greifbarer Nähe haben.
Hans-Albrecht Koch
Zurück an den Bildanfang