Für die Jazzgemeinde ist John Coltrane ein Heiliger wie sonst nur
Charlie Parker oder in der Rockmusik Jimi Hendrix. Ohne Coltrane
klänge der Jazz und überhaupt die ganze moderne Musik anders. Coltrane
hat die modale Musik zwar nicht erfunden, aber durch ihn ist sie einem
breiten Publikum bekannt geworden. Seit Coltrane hat sich der Jazz aus
seinem Ghetto-Dasein herausbewegt und anderen Kulturen geöffnet; erst
seitdem gibt es Entwicklungen, die sich mit Formulierungen wie "Jazz
und ..." beschreiben lassen: Jazz und außereuropäische Musik, Jazz und
Politik, Jazz und Religion usw. Durch ihn wurde die Öffnung zur
Weltmusik, zu indischer und arabischer Musik, erst möglich.[1] Nach
Coltrane konnten vor allem das Tenorsaxophon, aber auch das
Sopransaxophon und damit alle Reed-Instrumente nicht mehr in der
gleichen Weise gespielt werden wie zuvor. Kaum ein Saxophonist der
heutigen Jazzszene, der sich nicht in irgendeiner Form auf Coltrane
bezieht. Generationen von Jazz-Saxophonisten berufen sich auf Coltrane
oder adaptieren ihn: Jan Garbarek, Gato Barbieri, Pharoah Sanders,
Roland Kirk, Frank Wright, George Adams u.v.a. Das Saxophonspiel von
Coltrane wurde zum Vorbild für Gitarristen wie Carlos Santana oder
John McLaughlin und Keyboarder wie Terry Riley. Popmusiker,
Rockmusiker, sogar klassische Musiker erwähnen Coltrane als ihren
größten Einfluß - musikalisch wie menschlich. Der Name Coltranes wird
mit Respekt und Anerkennung erwähnt wie der Name eines Propheten, vor
allem von seinen ehemaligen Mitmusikern. Coltrane wäre 1996 70 Jahre
alt geworden. Auch fast dreißig Jahre nach seinem Tod stellt er in der
modernen Musik einen großen Einfluß dar, vielleicht sogar den bis dato
letzten wirklichen beeinflussenden Faktor. Zugleich wirkt sein Leben
im Rückblick wie dasjenige eines Besessenen auf der Suche nach
musikalischer Perfektion: nach seiner Etablierung in der damaligen
Jazzszene in Bebop und Hard Bop (u.a. in Bands von Dizzy Gillespie und
Miles Davis) über Drogenexzesse und dadurch bedingte Abstürze bis hin
zu religiöser Ekstase (A Love Supreme, Ascension, Spiritual,
Expression, Meditation, Transition usw.) und politischem Engagement
(Alabama, Reverend King usw.) durchlebte und erlebte er den Durchbruch
vom Hard Bop zum Free Jazz als existentielles Geschehen, ständig auf
der Suche nach neuen Sounds bis zur Grenze des physisch machbaren,
sich selbst verzehrend, bis er schließlich erschöpft im Jahre 1967 an
Leberkrebs verstarb. Seine wohl schönsten und eindringlichsten
Kompositionen hat er wenige Monate vor seinem Tod aufgenommen
(Interstellar Space und Stellar Regions).
Nach den ersten Diskographien von Brian Davis[2] und David Wild[3] sowie
des Tokyoter Jazz Spot Intro[4] haben Yasuhiro Fujioka und seine
Mitarbeiter eine Diskographie dieses großen Musikers in Buchform
zusammengestellt, die als Vorbild gelten kann. Der Aufbau des
Hauptteils erfolgt chronologisch nach Aufnahmedatum und entspricht
somit dem internationalen diskographischen Standard. Diese Form der
diskographischen Verzeichnung wurde ausführlich in IFB 94-2-299 - 300
beschrieben und bewertet.[5] Es handelt sich also hierbei nicht um ein
Schallplattenverzeichnis, sondern um ein Verzeichnis von über 300
veröffentlichten und unveröffentlichten Aufnahme-Sessions, davon ca.
30 bisher nirgends verzeichnete Live-Sessions in chronologischer
Folge.[6] Register der Titel, Musiker und Label erschließen das Werk.
Der Hauptteil wurde sowohl typographisch als auch optisch
außerordentlich interessant gestaltet. Yasuhiro Fujioka verwendet
Symbole, durch die der diskographisch weniger geübte Benutzer erkennen
kann, ob ein Musikstück auf einer LP, einer CD, einem Band oder einem
Video veröffentlicht wurde oder ob das Stück z.B. im Radio
ausgestrahlt wurde. Fußnoten und Anmerkungen ergänzen die
Formalangaben. Zahlreiche Fotos der LPs oder CDs runden die Einträge
ab.
Am Ende jedes Jahres erscheint eine Rubrik Coltrane's footprints mit
knappen biographischen Informationen in chronologischer Folge.[7] Diese
Footprints rechtfertigen nicht ganz den Untertitel Musical biography,
sind jedoch sehr interessant und auch im Rahmen der chronologischen
Diskographie ausgesprochen nützlich.
Die Diskographie wird durch viele Abbildungen und Photos angereichert:
zu den 700 Coveraufnahmen von CDs und LPs kommen 110 Fotos von John
Coltrane und vielen anderen (Mit-)Musikern, Abbildungen von
Konzertplakaten und Eintrittskarten, Auszügen aus den Log books der
Plattenproduzenten, Abbildungen von Plattenverträgen, Photos von
Coltranes Haus in Philadelphia sowie eine Zeichnung von John Coltrane.
Es gibt in diesem Buch keine einzige langweilige Seite.
In die Diskographie sind viele Informationen eingeflossen, die auf
intensiver Forschung beruhen. Viele Tapes und Bootlegs sind (immer
noch) in privater Hand, andere lagern in den Archiven der
Plattenfirmen, weitere sind gar verschollen oder auch gelöscht worden.
Auch nach der Veröffentlichung dieser Diskographie bleiben also noch
Fragen offen; der Schluß des Buches enthält neben Addenda und
Nachworten auch einen Anhang mit einer Zusammenstellung von
Coltrane-Interviews und einer Liste For future research.
Die Präsentation des Bandes könnte durch die farbige Wiedergabe der
Plattencover und durch die Ausmerzung typographischer Mängel[8]
verbessert werden. Da wohl weiterhin mit neuen Coltrane-Reissues und
Posthum-Veröffentlichungen zu rechnen ist (so konnten die Aufnahmen
für Stellar Regions vom 15. Februar 1967 nicht mehr eingearbeitet
werden), kann sicherlich mit einer aktualisierten Neuauflage des
Werkes gerechnet werden.
Bernhard Hefele
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