Dies ist naheliegend: der Musikredakteur wird von der Schallplattenindustrie herzlich mit Probeaufnahmen, Samples, Pressemitteilungen, sog. Hintergrundinformationen sowie Original-CDs und -Schallplatten bedacht, wenn es darum geht, einen Künstler oder eine Band in die Charts zu bringen. Daneben gibt es die Spiellisten der Redaktionen und Vorgaben, wann was in welcher Sendung zu spielen ist. Erst vor kurzem wurde Alan Bangs bei seinem Sender gefeuert, weil er nicht das Vorgegebene auf den Plattenteller legte. Ansonsten sitzt der Musikredakteur natürlich an der Quelle und verfügt über ein unerschöpfliches Senderarchiv und auch ein privates Archiv. Warum also sollte er nicht ein Rocklexikon machen?
Christian Graf ist aus dem Hause RIAS, war später für lokale Rundfunksender tätig und hat jetzt beim Fischer-Taschenbuch-Verlag vier dicke Bände veröffentlicht: zwei - zusammen mit Burghard Rausch - widmen sich der Rockmusik Europas und zwei der Rockmusik Amerikas, Afrikas und Australiens. Für knapp DM 60.00 insgesamt liegen schwergewichtige Bände mit über 1300 Einträgen auf dem Tisch.
Das Rockmusiklexikon Europa enthält im Impressum den Hinweis
"Originalausgabe". Beim Griff ins Bücherregal, Rubrik
Lexika/Nachschlagewerke, findet sich jedoch ein 1986 erschienenes
zweibändiges Lexikon desselben Verfassers mit demselben Titel.[7] Es
enthält 448 Einträge unter Musiker- und Bandnamen und ähnelt in der
Aufmachung sehr der Neuausgabe bei Fischer. Die neue Ausgabe enthält
714 Biographien und stellt somit eine erweiterte Ausgabe der
Taurus-Publikation dar. Im Buch selbst ist dies nicht deutlich
gekennzeichnet. Beim Abgleich des ersten Bandes fällt auf, daß außer
den Einträgen zu Marc Bolan und Flock Of Seagulls alle Einträge des 1.
Bandes der Ausgabe 1986 auch im ersten Band der Ausgabe 1996 enthalten
sind, was darauf schließen läßt, daß für einen Zeitraum von ca. 10
Jahren keine kritische Durchsicht der Einträge auf ihre Bedeutung und
Relevanz erfolgte, sondern eher eine Kumulation vorgenommen wurde:
alles von 1986 plus die neuen Namen. Der Artikel über Marc Bolan wurde
übrigens zu einem Artikel über T. Rex und Flock Of Seagulls steht nun
unter A Flock Of Seagulls.
Eine inhaltliche Definition, was unter Rockmusik verstanden wird, wird
im Buch selbst nicht gegeben; es gibt keine fachlich-inhaltliche
Einleitung. Dem Umschlag ist zu entnehmen, daß die Auswahl das ganze
Spektrum vom Blues über Heavy Metal, Punk, Rap, Reggae und Rock'n'Roll
dokumentiere. "Die Auswahl beschränkt sich nicht nur auf allseits
bekannte Rockstars, sondern bezieht auch rockige Liedermacher,
erfolgreiche Vertreterinnen [sic] der Discomusik und nur Insidern
bekannte Solisten und Kultstars mit ein".
Die Einträge selbst sind komprimiert gehalten und in journalistischem
Stil geschrieben, lediglich bei den Lieblingsbands der Autoren wie den
Stones expandieren die Artikel zu Romanen. Jeder Beitrag enthält
Verweisungen (mit Pfeil gekennzeichnet), leider oft auch Verweisungen
auf Namen, die nicht in diesem Buch auftauchen (z.B. beim Eintrag zu
Brian Auger auf Santana oder bei Jack Bruce auf Zappa). Offensichtlich
liegt der Schwerpunkt des Lexikons auf dem englischsprachigen Bereich.
Die Band Guru Guru findet man nur im Index mit einem Hinweis auf
Tangerine Dream; Embryo und Ash Ra Temple haben ebenfalls nur
Indexeinträge und sind dem Autor lediglich eine numerische Aufzählung
in Artikeln anderer Bands wert. Das Vorwort gibt den Hinweis: "Die
Biographien sind ein Extrakt internationaler Presseberichte der vor
allem englischsprachigen Rockliteratur ... Die Fakten über die
deutschen Rock-Interpreten stützen sich weitgehend auf die
Informationen des Lexikons Rock in Deutschland (Taurus Press)." In der
neuesten Auflage dieses Werkes von Günter Ehnert,[8] sind jedoch
Einträge über Ash Ra Temple, Guru Guru und Embryo enthalten. Beim
Abgleich zwischen Ehnert und Graf fehlen bei Graf allein bei den
Buchstaben A bis C 21 Bandnamen. Es wäre sinnvoll gewesen, die
Auswahlkriterien offenzulegen, nach denen deutsche Bands aufgenommen
bzw. nicht aufgenommen wurden.
Jeder Eintrag wird mit einer Liste der veröffentlichten LPs und CDs
abgeschlossen. Die Liste enthält nicht mehr als Plattentitel,
Erscheinungsjahr und Bestellnummer, dagegen weder Besetzungen noch
Stücktitel. Eigentlich ist dies keine Diskographie wie der Umschlag
suggeriert: "Mit Chartsnotierungen der Tophits und ausführlichen
Diskographien", sondern eine Titelliste.
Ob alle Artikel der Ausgabe von 1986 überarbeitet und aktualisiert
wurden, ist fraglich. Eine stilistische Überarbeitung erfolgte beim
Eintrag Animals. Hier wurde aus der "dreckigen" Industriestadt
Newcastle die "schmuddelige" Industriestadt. Bestimmte - auch
international bekannte - Namen sucht man vergeblich (z.B. Abba, Fred
Frith, Dick Heckstall-Smith, Lucifer's Friend, Lords, Münchner
Freiheit): sie tauchen jedoch wenigstens im Index als Verweisung auf
andere Artikel auf. Pur, Wolfgang Ambros, Pulp, Portishead, Die
Fantastischen Vier, Boney M, Selig, Oasis, Blur oder die kürzlich
verstorbene Tamara Danz fehlen völlig. Andererseits stößt man beim
Stöbern auf Namen, die von der vorherigen Ausgabe übernommen wurden
und deren Einfluß auf die Popgeschichte fraglich ist. Der Autor läßt
jedoch keinen Zweifel darüber, daß die Auswahl subjektiv ist, was
zumindest ehrlich ist.
Probleme bei der Namensansetzung gibt es bei der Edgar Broughton Band
und der Dave Clark Five. Erstere steht unter Broughton Band, Edgar (in
der Ausgabe 1986 unter Broughton, Edgar, Band), letztere unter Dave
Clark Five. Ungewöhnlich bei der Übersicht der Instrumente: po für
Posaune (in der Ausgabe 1986 steht noch die international übliche
Form: tb) und tr für Trompete (statt tp). Das Kürzel sollte
einheitlich entweder nach dem englischen Begriff gebildet werden;
andernfalls müßte es nämlich für Schlagzeug sz statt dr heißen.
Positiv erwähnt werden muß das Register, das auch Namen wie Wiglaf
Droste nachweist und gute Quereinstiege ermöglicht. Ebenfalls gelungen
ist die Umschlaggestaltung.
Alles in allem leidet auch dieses Lexikon trotz der Informationsfülle
an undurchsichtigen Auswahlkriterien und mangelnder Aktualität. Das
Manuskript schließt am 31. März 1994. Zwei Jahre Verzugszeit zwischen
Redaktionsschluß und Publikationsdatum sind für diese schnellebige
Musikszene einfach zu lang, zumal wenn große Teile aus einem bereits
publizierten Werk übernommen wurden. Der Schwerpunkt des Lexikons
liegt auf englischen Bands; deutsche und insbesondere ostdeutsche sind
nur in - welcher? - Auswahl vorhanden; die französische, italienische
und sonstige europäische Popszene ist nur selektiv vertreten.
Beim Rockmusiklexikon Amerika, Afrika, Australien handelt es sich um
den (so auch im Impressum angegeben) unveränderten Nachdruck der
zweibändigen Ausgabe von 1989.[9] Nicht einmal die Schreibfehler dieser
Ausgabe wurden korrigiert (durchschnittlichlichen im Artikel über Felá
Anikulapo Kuti, S. 567). Wo etwas verändert wurde, nämlich im Vorwort,
passierte ein übler Fehler: nicht 800 LPs werden verzeichnet, sondern
8000 wie auch in der Ausgabe 1989 vermerkt. Ansonsten zur Qualität der
Artikel: "Die Biographien basieren in erster Linie auf offiziellen
Informationen der Schallplattenfirmen (sog. Life Lines oder Product
Facts), Artikeln aus der internationalen und nationalen Fach- und
Tagespresse, eigenen Interviews unter Hinzuziehung der umfangreichen
englischsprachigen Pop- und Rockliteratur". Der Redaktionsschluß
- beider - Ausgaben liegt am 15.9.1988. Ein ausführliches - leider
nicht
so gut wie beim Rockmusiklexikon Europa gearbeitetes - Personen- und
Gruppen-Register erschließt das Werk. Nostalgiker sollten nochmals die
Artikel über Carlos Santana und Frank Zappa lesen. Dem Verlag sei eine
Zusammenlegung der beiden Lexika zu einer - überarbeiteten und
aktualisierten - CD-ROM-Ausgabe empfohlen.
Bernhard Hefele
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