von
Wolfgang Kasack
1. Vorbemerkung
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der damit aufgehobene Zwang für russische, im Lande wohnende Wissenschaftler, ihre Sicht auf die Literatur einer vorgegebenen politischen Meinung unterzuordnen, hat dort die Voraussetzung geschaffen, die Geschichte der russischen Literatur neu zu schreiben. In den verschiedenen Phasen der Entwicklung der Sowjetunion änderte sich die politisch bedingte Auswahl der Autoren und Werke, die berücksichtigt werden durften, änderten sich die Wertung und damit auch der Umfang der zugebilligten Seiten oder Zeilen. Verhaftung, Hinrichtung und Ausreise eines Schriftstellers bedeuteten seinen Ausschluß aus der Geschichte der russischen Literatur, selbst wenn unmittelbar davor größtes Lob gespendet worden war.
Auch viele außerhalb des sowjetischen Machtbereichs veröffentlichte Geschichten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts sind keineswegs frei von der sowjetischen Sicht geblieben. Das veranschaulicht bereits die Übernahme des Begriffs "Sowjetliteratur" für die russische Literatur des 20. Jahrhunderts, der - den Verfassern sicher oft nicht bewußt - den Primat der Politik über die Literatur akzeptiert. Eine Entscheidung, die "Sowjetliteratur" darzustellen und nicht die russische, bedeutete einen Verzicht auf die Berücksichtigung der Literatur der Emigration. Außerdem wurde im Westen der Begriff "Sowjetliteratur" in der Regel gleichgesetzt mit "Russische Literatur ab 1917" und schloß so die sowjetische Literatur anderer Sprachen außer der russischen in der UdSSR aus. Dort war dafür der Begriff "Russische Sowjetliteratur" üblich. Ferner entsprach der Kanon der Autoren, die westliche Wissenschaftler als "sowjetisch" einordneten, keineswegs dem des aktuellen sowjetischen Zensors. Das bezog sich z.B. auf bedeutende Schriftsteller der zwanziger Jahre wie Babel oder Pilnjak als Ermordete, Achmatowa oder Pasternak als Unterdrückte und Verleumdete und Samjatin als Geschmähten und Emigrierten. In die meisten westlichen Geschichten der "Sowjet"-Literatur sind sie einbezogen.
Der Ausschluß der Literatur der Emigranten aus vielen westlichen
Literaturgeschichten beginnt damit, daß russische emigrierte
Literaturwissenschaftler der in der Sowjetunion nach 1917 entstandenen
Literatur gesonderte Aufmerksamkeit widmen. Mark Slonim
veröffentlichte 1933 ein Buch Porträts sowjetischer Schriftsteller und
brachte zwei Jahre später in französischer Sprache eine entsprechende
Anthologie heraus. Ebenso verhielt sich Gleb Struve, der erstmals 1935
der "Sowjetliteratur" eine Monographie widmete.[1] Beide wollten
deutlich machen, daß unter dem neuen Regime trotz Lenins totaler
Zerschlagung von Adel, Bürgertum, Wirtschaft und der überkommenen
russischen Kultur und trotz der Ausreise des überwiegenden Teiles der
angesehenen russischen Schriftsteller das literarische Leben nicht zum
Erliegen gekommen war. In den Neuauflagen korrigierte Struve den
zunächst verständlichen Ausschluß der Auslandsliteratur nicht, sondern
vertiefte ihn noch 1956 durch eine isolierte, jedoch nur auf russisch
erschienene Abhandlung über diese Literatur "in der Vertreibung".[2]
Nach dem Ende der Sowjetära 1991 sind neue Geschichten der russischen
Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen, und diese sollen
hier als erste vorgestellt werden. Sie werden mit ausgewählten älteren
Darstellungen der Sowjetperiode verglichen, darauf folgen
Beschreibungen von Geschichten der russischen Literatur über den
gesamten Zeitraum. Der Gesamtbestand an Literaturgeschichten und
Nachschlagewerken, aus dem für diesen Überblick ausgewählt werden
mußte, liegt bei 150 Titel. Die nachfolgende Übersicht wird in
erweiterter Form 1997 als Buch erscheinen.[3] Ein Teil der hier nicht
berücksichtigten Titel findet sich in der Bibliographie, die ich in
die knappen Abhandlungen des Gegenstandes von Wilhelm Lettenbauer und
mir in Kindlers neues Literaturlexikon[4] und in mein Buch
Russische
Autoren[5] einbezogen habe.
2. Geschichten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts aus der
Zeit nach dem Ende der Sowjetära
Noch vor der Wende wurde in der DDR der Plan gefaßt, eine neue, etwas
liberalere Geschichte der russischen Literatur der Sowjetzeit
herauszubringen. Die Verwirklichung durch zwei Leipziger Slawisten -
Willi Beitz und Karlheinz Kasper - nach der Wiedervereinigung befreite
die Herausgeber von jeglichen ideologischen Vorgaben, brachte aber
finanzielle und personelle Probleme. Sie beschlossen, zwei unabhängige
Bände mit jeweils eigenen Autoren herauszugeben.
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