Daß sich die politische Geschichte unseres Landes, jedoch ebenso die Geschichte und die momentane Situation des deutschen Bibliothekswesens einem ausländischen Interessenten, selbst Kenner, ausgesprochen kompliziert darstellt, wird bereits in Olsons Vorwort mit seinen Erläuterungen zur Verwendung der Begriffe Deutschland sowie Deutsche Bücherei und "the" bzw. "Die" Deutsche Bibliothek offensichtlich. Auf das Einleitungskapitel, in dem Olson seine Darstellungsmethode skizziert, folgen fünf Abschnitte, die, beginnend mit der Gründung der Münchener Bibliothek 1558, die Geschichte der vier Bibliotheken epochenweise nachzeichnen, sowie zwei Kapitel zur aktuellen Situation. Die Kapitelüberschriften sind ungewöhnlich und zugleich sinnreich: sie erklären sich zwar nicht ohne weiteres selbst, erschließen aber bald über den Text - "Imperialists" für das 19. Jahrhundert oder "What If" für die Zeit zwischen 1900 und 1933 - beginnt jedes der chronologischen Kapitel mit Daten und Erläuterungen zur allgemeinen historischen, gesellschaftlichen und (kultur)politischen Situation und zum zeitgenössischen Bibliothekswesen. In diesem Kontext werden Bau- und Bestandsgeschichte, Benutzung, Katalog- und Personalsituation der vier Institutionen detailliert behandelt, wobei am Rande auch andere Bibliotheken gestreift werden wie die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel als "Nationalbibliothek für das 17. Jahrhundert" und die Göttinger Universitätsbibliothek, die schließlich Berlin und München stark beeinflußte; für die neuere Zeit werden dem SSG-System, den zentralen Fachbibliotheken und dem Gemeinschaftsprojekt "Sammlung Deutscher Drucke" besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Trotz einer - für diesen nicht sehr voluminösen Band - beeindruckenden Fülle von Detailinformationen mit einer Vielzahl von Fakten, Zahlen und Namen ist der Text, der sich ebenso an Fachkollegen wie an allgemein interessierte Nicht-Spezialisten richtet, ausgesprochen gut lesbar. Dazu trägt bei, daß es sich nicht um eine rein auf Literaturrecherchen beruhende Arbeit handelt - der Autor betont, wie wichtig ihm persönliche Gespräche mit den Direktoren und zahlreichen Mitarbeitern der Bibliotheken waren - und Olson immer wieder mit persönlichen Einschätzungen Stellung bezieht. Auf den ersten Blick ebenfalls recht beeindruckend wirken die zehnseitige Literaturliste und ein umfangreicher Anmerkungsapparat. Die Bibliographie ist allerdings unnötig ausgeweitet durch eine Reihe von literarischen und allgemeinhistorischen Werken, aus denen Olson im Text zitiert hat (so neben Goethe auch Böll, Heine, Julian Barnes), und selbst allgemeine Fakten meint er mit bisweilen zufällig ausgewählt erscheinenden Literaturangaben belegen zu müssen: Zur Bücherverbrennung werden zwei Börsenblatt-Artikel und ein dokumentarischer Sammelband angegeben, zum information highway je ein Artikel aus Newsweek und Time. Ein Register, in dem in der Regel von den deutschen Begriffen auf die englische Übersetzung verwiesen wird, schließt den Band ab.
Leider ist, ohne daß dies im Vorwort zum Ausdruck gebracht würde, zwischen dem Abschluß der Arbeit und ihrer Publikation ein größerer Zeitraum verstrichen, so daß im Schlußkapitel Namen, Fakten und Literaturangaben nicht auf dem aktuellen Stand sind: Beispielsweise werden die Zahlen der Deutschen Bibliotheksstatistik des Jahres 1991/92 zugrundegelegt, zur "Sammlung Deutscher Drucke" lediglich Daten und Literatur von 1992 genannt, die Diskussion um die Zukunft der Berliner Staatsbibliothek ebenso wie die Verhandlungen über die Restitution von Bibliothekssammlungen mit dem Stand von 1992/93 wiedergegeben und der Bibliotheksplan '73 zwar ausführlich behandelt, das neue Strukturpapier Bibliotheken '93 aber nicht erwähnt. An besonders gründlichen Korrekturarbeiten für diesen 1996 erschienenen Band kann die Verzögerung kaum gelegen haben, denn erstaunlich viele Schreibfehler - für ein Werk dieses Anspruchs - wirken mitunter irritierend.
Diese Kritikpunkte sollen jedoch den grundsätzlichen Wert von Olsons Arbeit keineswegs schmälern, der damit nicht nur die Geschichte vier bedeutender Bibliotheken, sondern wichtige Aspekte des deutschen Bibliothekswesens überhaupt für englischsprachige Interessenten aufarbeitet und verständlich darstellt. Ein anregendes Buch, auch wenn man nicht alle Schlußfolgerungen teilen muß, ist dies fraglos auch für den deutsch(sprachig)en Leser, dem hier die deutsche Bibliothekssituation aus ungewohnter Perspektive ebenso anschaulich wie nachdenkenswert vermittelt wird.
Jürgen Hespe