Natürlich stellt sich trotz solcher vom Herausgeber ergriffenen bzw.
formulierten Vorsichtsmaßnahmen die Frage nach den Auswahlkriterien
des vorliegenden Bandes. Die Strategie war offensichtlich eine
doppelte, wie bereits die Zwillingsformel "die wichtigsten und
wirkungsstärksten Romane" andeutet: Zum einen sollte der anerkannte
Kanon, sollten jene Werke, "die zum abendländischen und
Weltbildungsgut gehören", berücksichtigt werden, zum anderen aber auch
solche Romane nicht ausgeschlossen bleiben, die zu ihrer Zeit eine
bedeutende Rolle spielten, aber "aus dem Gesichtskreis heutiger
Leserinnen und Leser verschwanden und in der
Literaturgeschichtsschreibung eine Randposition zugewiesen bekamen"
(S. VII). Zudem, bzw. in Zusammenhang mit diesem zweiten Kriterium, da
ja Nobelpreisträger oft schon nach wenigen Jahren vergessen sind,
"ging es dem Herausgeber darum, alle Träger des Literaturnobelpreises
[sofern sie Romanciers waren, versteht sich] mit einem ihrer Werke zu
präsentieren", da die Geschichte dieses Nobelpreises "eine spezifische
Form der Literaturgeschichtsschreibung [darstellt], die als
zeitverpflichtetes Korrektiv zum Parnaß der 'Unsterblichen' angesehen
werden muß" (S. VII). Daneben kamen zwei weitere, formale Kriterien
zum Tragen,
insofern pro Autor nur jeweils ein Roman ausgewählt wurde[2] und
sämtliche Texte in deutscher Übersetzung vorliegen mußten, da
ausschließlich übersetzte Werke besprochen sind.
An vielen Stellen widerspricht das Kriterium "ein Roman pro Autor"
freilich jenem anderen der "wichtigsten und wirkungsstärksten Romane",
da häufig ein und derselbe Autor - man mag an den im Vorwort so oft
zitierten Goethe oder an Jean Paul, an Flaubert, Dostojewskij oder
viele andere denken - mehrere Romane verfaßt hat, die wichtig und
wirkungsstark wurden, auf jeden Fall wichtiger und wirkungsstärker als
viele andere, die Aufnahme in Den großen Romanführer fanden. Außerdem
bleibt natürlich die Entscheidung für den jeweils wichtigsten Roman
strittig, denn beispielsweise bei Michel Butor hätten mit zumindest
gleichem, wenn nicht größerem Recht statt Passage de Milan der Roman
La Modification ausgewählt werden können, der als der meistgelesene
nouveau roman gilt. Die Länge der einzelnen "Inhaltsreferate" variiert
sehr stark - Fontanes Effi Briest etwa wird auf gut einer halben Seite
abgehandelt, während Gides Falschmünzern mehr als fünf Seiten zukommen
-, so daß einzelne Besprechungen ungleich detaillierter und
informativer sind als viele andere (was natürlich auch mit der
Vielzahl an Mitarbeitern zusammenhängt, die jeweils unterschiedliche
Schwerpunkte setzen). Von erfreulichen Ausnahmen abgesehen, begnügen
sich die Darstellungen leider in vielen Fällen mit reinen
Inhaltsangaben, selbst dort, wo diese, wie insbesondere bei manchen
Romanen des 20. Jahrhunderts, fast nichts mehr über den Text
auszusagen vermögen. So wird etwa Die Jalousie oder Die Eifersucht von
Robbe-Grillet als "Psychologischer Roman" (S. 614) qualifiziert und so
zusammengefaßt, daß er, wäre nicht von Autofahrten die Rede, auch
hundertfünfzig Jahre früher entstanden sein könnte: keine Bemerkung
zur ungewöhnlichen Erzählweise, keine zur erforderlichen Arbeit des
Lesers, der sich das, was hier als kohärente Dreiecksgeschichte
wiedergegeben ist, mühsam zusammensetzen muß, wenn er es denn haben
will, etc.
Was das - sonst sehr ausführliche und, vor allem in bezug auf die
zugrundeliegende Konzeption von Weltliteratur, sehr interessante
- Vorwort verschweigt, ist die Tatsache, daß offenbar, Stichproben
zufolge, sämtliche Referate identisch aus den einzelnen Bänden Des
Romanführers übernommen wurden, gekürzt lediglich um den Hinweis auf
andere, frühere Übersetzungen mit abweichendem Titel. Neu hingegen und
in seinen Werkanalysen sehr informativ ist der den Band einleitende
Essay Der antike Roman als Vorläufer und Wegbereiter der europäischen
Roman-Literatur, der die bekanntesten antiken Romane zum Teil
detailliert schildert und so einen ersten Einblick etwa in das
Satyricon, Den goldenen Esel und die Aithiopika ermöglicht: einen
Einblick, der mehr von den Texten erahnen läßt als manche Besprechung
im Hauptteil.
Ergänzt wird der Band durch ein Chronologisches Verzeichnis der Träger
des Nobelpreises für Literatur von 1901 bis 1995, das sich nicht nur
auf Romanautoren beschränkt, sowie durch ein Register der Verfasser
und Werke und ein Titelregister, das allerdings, wie in den einzelnen
Bänden der Reihe auch, bedauerlicherweise nur die Übersetzungstitel
nennt.
Barbara Kuhn
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