Da sich an der Präsentation der französischen Literatur Frankreichs
nichts geändert hat,[3] soll hier vor allem auf die neu hinzugekommenen
Kapitel eingegangen werden, zumal die Frankophonie in den bisherigen
Auflagen ja tatsächlich eine bedauerliche Lücke darstellte, die nun
geschlossen wurde. Selbstverständlich waren die bekanntesten
französisch schreibenden Autoren, die nicht aus Frankreich stammen,
auch bisher schon erwähnt worden: unter ihnen etwa Maurice Maeterlinck
und Anne Hébert, Saint-John Perse und Aimé Césaire, Tahar Ben Jelloun
und Kateb Yacine. Doch erstens beschränkte sich die bisherige
Darstellung oft tatsächlich auf eine bloße Erwähnung,
zweitens wurde nicht in allen Fällen auf die nicht-französische
Herkunft hingewiesen, und drittens wurde kaum einmal der geographische
Kontext, in dem die jeweiligen Texte stehen, berücksichtigt:
Weitgehend unabhängig von ihrem Entstehungsraum wurden sie primär im
Zusammenhang ihrer Gattungszugehörigkeit gesehen und behandelt: Hébert
und Michaux beispielsweise im Rahmen der Lyrik nach dem zweiten
Weltkrieg, Kateb Yacine im Kapitel über den Nouveau Roman und der
unverzichtbare Simenon natürlich innerhalb der Geschichte des
französischen Kriminalromans.
Analog zum Aufbau des Frankreichteils sind auch die Kapitel über die
einzelnen frankophonen Literaturen chronologisch gegliedert, wobei die
allgemeine und politische Geschichte hier im Verhältnis eher noch
größeren Raum einnimmt als in den vorausgehenden Abschnitten:
Teilweise scheint es sich weniger um historisch ausgerichtete Aufsätze
über die Literatur denn um primär sozialgeschichtliche Abhandlungen
mit Blick auf die Literatur zu handeln, da die Texte oft eher als
Dokumente für bestimmte politische oder gesellschaftliche
Entwicklungen denn als Kunstwerke betrachtet werden. Dennoch bleibt
auch in diesen Kapiteln das für die gesamte Literaturgeschichte
gewählte und in aller Regel überzeugende Prinzip gültig, die Literatur
eines Zeitabschnitts getrennt nach den einzelnen, jeweils für eine
Zeit relevanten Gattungen zu betrachten, statt sie beispielsweise nach
den "großen" Autoren einzuteilen. Freilich schützt auch eine solche
Anordnung weder vor einer allzu schematischen Darstellung, die
Kategorien wie das sogenannte "absurde Theater" an keiner Stelle in
Frage stellt, noch vor allzu verkürzender Einordnung eines Autors in
eine der Schubladen.[4]
Gültig bleibt ferner, was für wohl jede von mehreren Autoren verfaßte
Literaturgeschichte und so auch für diese zutrifft: daß die
Schwerpunkte der einzelnen Beiträge, selbst bei einer von allen
Autoren respektierten Grundtendenz, unterschiedlich gesetzt werden. So
geht etwa der Artikel über Belgien stärker auf einzelne Texte ein als
der über die französische Literatur Kanadas, wo die Fülle der
aufgeführten Schriftsteller oft jede auch nur andeutungsweise ins
Detail gehende Analyse verhindert, vielmehr jedem Namen einfach ein
Etikett zugeordnet wird, etwa nach folgendem Muster: "Sozialkritisch
und weniger regionalistisch als urban gefärbte Familiengeschichten
schreiben Jacques Ferron, Victor-Lévy Beaulieu, André Major, Michel
Tremblay und Yves Beauchemin, der mit Le matou in den achtziger Jahren
einen Sensationserfolg feiert. Unverzichtbar ist ein Blick auf die
reichhaltige Frauenliteratur der Epoche. Louky Bersianik
(L'Euguélionne, 1976), Nicole Brossard (L'Amer, 1977), France Théoret
(Bloody Mary, 1977) sowie Pauline Cadieux, Hélène Rioux, Madeleine
Gagnon, Francine No‰l, Monique Bosco und Geneviève Amyot bereichern
den Roman um feministische Aspekte" (S. 396) - Etiketten, die meist so
allgemein sind, daß sie über den einzelnen Text nichts mehr auszusagen
vermögen. Selbst im Fall von so bekannten und anerkannten Autoren wie
etwa Saint-John Perse im Kapitel über Die frankophone Literatur der
Karibik begnügt sich die Französische Literaturgeschichte mit wenigen
und pauschalen Sätzen, die keinen Zugang zu den Texten selbst
verschaffen: "Der bedeutendste Autor dieser Jahre ist jedoch der
Lyriker Saint-John Perse, Nachfahre einer weißen
Großgrundbesitzerfamilie. Seine Dichtungen (Eloges, 1911; Anabase,
1924; Exil, 1942; Vents, 1946; Amers, 1957) lassen nichts von den
realen Lebensbedingungen der Antillaner erkennen, ihre Hymnik feiert
die Elemente, den Rhythmus der Naturerscheinungen; sie soll 'le
mouvement même de l'Etre' ausdrücken, wie der Autor aus Anlaß der
Verleihung des Nobelpreises 1960 erklärt" (S. 405 - 406). Auch wenn
die Karibik nicht explizit thematisiert wird, sind die Texte von
Belang[5] - zumal ja auch bei Autoren aus Frankreich nicht nur dort
näher auf einzelne Werke eingegangen wird, wo die "realen
Lebensbedingungen" der Franzosen erkennbar bleiben.
Doch nicht überall hat die Darstellung diesen aufzählenden Charakter,
und generell läßt sich festhalten, daß in dieser 3. Aufl. zahlreiche
Autoren und Texte berücksichtigt wurden, die zuvor entweder, wie etwa
Michel de Ghelderode, erstaunlicherweise überhaupt nicht auftauchten
oder, wie Fernand Crommelynck, im Rahmen der französischen Literatur
Frankreichs zwar bereits erwähnt wurden, doch ohne konkret auf Texte
einzugehen. Leider wurde allerdings die 3. Aufl. tatsächlich nur, wie
die Titelseite ankündigt, "um die frankophonen Literaturen außerhalb
Frankreichs erweitert", nicht im Hinblick auf diese Erweiterung auch
überarbeitet: Da die 2. Aufl. bis S. 370 identisch übernommen wurde,
finden sich bis S. 370 auch keinerlei Hinweise auf die eventuell
folgende, detailliertere Auseinandersetzung mit einem Autor.
Gelegentlich wird zwar, etwa bei Maeterlinck, Verhaeren und Simenon,
von den neuen Kapiteln auf die alten zurückverwiesen, doch wäre
erstens der Querverweisun von der ersten Erwähnung im bisherigen Teil
auf die in der Regel etwas ausführlichere Betrachtung im neuen
wichtiger, weil hilfreicher, gewesen und wird zweitens in sehr vielen
Fällen, bei Rodenbach, Michaux und Toussaint, bei Tahar Ben Jelloun
und Kateb Yacine, bei Aimé Césaire und Saint-John Perse, völlig darauf
verzichtet, den Bezug herzustellen.
Natürlich hat jede Literaturgeschichte eine Gratwanderung zu gehen und
kann oft nur zwischen der Skylla einer Fülle von Namen unter Verzicht
auf direkten Textbezug und der Charybdis einer intensiveren
Textlektüre um den Preis vieler ungenannt bleibender Autoren wählen.
Wie so oft liegt der Königsweg wohl in der Mitte, und zumindest in
einigen Kapiteln der neuen Französischen Literaturgeschichte wird
dieser Mittelweg denn auch gewählt.
Barbara Kuhn
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