1.1. Encyclopedia of Latin American literature (ELAL)
1.1.1. Aufbau und allgemeine Charakteristik
Die nicht gerade handliche einbändige Enzyklopädie der lateinamerikanischen Literatur mit über 900 Seiten in DIN-A4 Format enthält Beiträge über Autoren, Werke, Themen sowie Überblicksartikel zur Literatur der einzelnen Länder, wobei im Gegensatz zum Diccionario enciclopédico de las letras de América latina (DELAL) die Werkinterpretationen im Gesamtalphabet als Untereintrag im Anschluß an den Beitrag zum Autor aufgeführt werden, was die Studie des Gesamtoeuvres eines Autors erleichtert und der Übersichtlichkeit dient. Autoren aus kleineren Ländern wie Ecuador und Bolivien, die nicht zu den Boom-Autoren gehören, führt der Band ebenso auf wie die Chicano-Literatur der spanischschreibenden Minderheit in den USA oder die frankophone und brasilianische Literatur des Kontinents. Ein besonderes Augenmerk galt bewußt der literarischen Produktion von Frauen, was sich in den Beiträgen Women's writing, Best sellers, Erotic and homoerotic writing, Feminism, Feminist literary theory, sowie in 42 Einträgen zu Schriftstellerinnen aus Lateinamerika (von insgesamt 186 Autorenartikeln) niederschlägt.
Die an der University of London lehrende Herausgeberin weist in ihrem
Vorwort darauf hin, daß sie für ein einbändiges Werk zu Autoren und
Literaturen eines ganzen Kontinents eine Auswahl treffen mußte, um
angesichts des begrenzten Umfangs noch aussagekräftige Beiträge
gewährleisten zu können.[1] In diesem Sinne soll der Band mit seinen 409
namentlich gekennzeichneten Beiträgen der 63 Mitarbeiter andere
Nachschlagewerke, wie das von David William Foster herausgegebene
Handbook of Latin American literature[2] ergänzen.
Die Autorenartikel gliedern sich in einen kritischen Überblick über
das literarische Schaffen des Autors, eine kurze biographische Notiz,
eine Auswahlbibliographie der Primärwerke (Originalsprache und
englischsprachige Übersetzung, wo vorhanden, in Klammern) in
chronologischer Reihenfolge und geordnet nach Gattungen und eine
annotierte Liste der Sekundärliteratur. Werktitel wurden in
Originalsprache zitiert, wo keine englische Übersetzung vorlag, wurde
eine wörtliche Übersetzung ins Englische in eckigen Klammern ergänzt.
1.1.2. Adressatenkreis
Die Encyclopedia of Latin American literature richtet sich in erster
Linie an anglo-amerikanische Studierende der Lateinamerikanistik. Als
Einstieg für wissenschaftliche Forschungsvorhaben ist sie nicht
geeignet, da ein detailliertes literaturtheoretisches Instrumentarium
und ein für diese Zwecke angemessener Nachweis weiterführender
Literatur fehlt.
Eine Ausweitung des Lektürekanons für Studenten auf Autoren und Werke
vergangener Jahrhunderte sowie die besondere Berücksichtigung der
Werke schreibender Frauen in Lateinamerika lassen das Lexikon als
Nachschlagewerk für Handapparate literaturwissenschaftlicher
Einführungsseminare in das Studium der Lateinamerikanistik geeignet
erscheinen. Für deutsche Studierende wirkt sich nachteilig aus, daß
der wissenschaftliche Diskurs der deutschen Lateinamerikanistik nicht
einbezogen wurde, was sich insbesondere bei den bibliographischen
Hinweisen auf weiterführende Literatur negativ bemerkbar macht.
Kein anderes neueres Nachschlagewerk hat jedoch Ansätze der
feministischen Literaturwissenschaft (von Theoretikerinnen wie L.
Irigaray oder H. Cixous) zur Werkanalyse lateinamerikanischer
Autorinnen einbezogen, so daß das Lexikon hier eine Forschungslücke
schließt und sich für Fragestellungen aus diesem wissenschaftlichen
Erkenntnisinteresse empfiehlt.
1.1.3. Inhaltliche Gewichtung der Einträge
Berücksichtigt werden sowohl Personennamen als auch Sachbegriffe
(Epochen, Gattungen, literarische und literaturtheoretische
Strömungen, Zeitschriften). Im Falle von Autoren mit umfangreichem
Oeuvre werden selektiv nur die wichtigsten Werke beschrieben, um
aufgrund des auf einen Band beschränkten Umfangs eine bloße
Aneinanderreihung von Werken mit vorhersagbaren nichtssagenden
Inhaltsangaben und -wertungen zu vermeiden, die qualitative Auswahl
ging zwangsläufig auf Kosten der Vollständigkeit.
Hilfreich sind im Anschluß an die Autorenartikel Hinweise auf weitere
Lexikoneinträge mit verwandten Themen: so wird bei García Márquez auf
die Einträge The boom, Caudillismo and dictatorship, The historical
novel und Magical realism verwiesen.
Biographische Informationen werden, sofern sie für die Werke eines
Autors konstitutiv sind, im Autorenbeitrag gegeben, in jedem Falle
folgt eine ca. zwanzigzeilige Kurzbiographie mit den wichtigsten
Lebensdaten und Literaturpreisen im Anschluß an den Autorenartikel.
Im Falle von Jorge Luis Borges hätte man sich anstelle des mit
separater Werkinterpretation herausgestellten Essay Nueva refutación
del tiempo von 1944/46 als einem der beiden separat abgehandelten
Werke repräsentativere Zeugnisse seines literarischen Schaffens, wie
z.B. die Analyse seiner frühen Avantgardelyrik gewünscht; der von ihm
begründete Ultraísmo erhielt keinen eigenen Eintrag. Als zweite
separate Werkanalyse wurde El jardín de senderos que se bifurcan, eine
phantastische Erzählung (1941) aus dem Band Ficciones (1944)
ausgewählt. Ein Hinweis auf regionale Traditionen, wie z.B. Einflüsse
von Lugones Las fuerzas extra¤as oder des Uruguayers Horacio Quiroga
auf seine phantastischen Kurzgeschichten fehlt. Das im Eingangskapitel
geäußerte Ziel, eine Korrektur der internationalen Fixierung der
Rezeption auf die Literatur der sogenannten "Boom-Autoren", "the task
of re-igniting an interest in the literature of the continent's past"
(S. IX) vorzunehmen, wurde nicht durchgängig erreicht.
Auf die Aktualität des Lexikons wurde bereits hingewiesen: die
Berichtszeit reicht von 1492 bis 1994. Neuere Titel wurden auch dann
gewürdigt, wenn sie, wie im Falle von Garciá Márquez El amor en los
tiempos del colera (1985), im Gesamtwerk aufgrund mancher
Konsistenzschwächen retrospektiv betrachtet eine eher untergeordnete
Bedeutung haben. Kriterium für die Aufnahme war auch hier offenbar die
Orientierung am Literaturkanon englischer und amerikanischer
Universitäten. Unverzichtbar wäre die Aufnahme des Brasilianers Moacyr
Scliar (1937) gewesen, der nur in dem Beitrag über Jewish writing,
South America erwähnt wird.
Die Erweiterung des Literaturkanons auf außerhalb Lateinamerikas wenig
bekannte Autoren und Werke konnte nicht verhindern, daß das Lexikon in
der Frage der Epochenbildung und der Werkanalysen im historischen
Kontext immer wieder vom anglo-amerikanischen Erkenntnisinteresse und
entsprechenden Kategorien geprägt ist. Einträge über Puerto Rican
writing in the United States, Cuban writing in the United States oder
Chicano literature aus New Mexico mag man akzeptieren, doch
illustrieren die Einträge über den Magical realism, den stark
nordamerikanisch geprägten literaturwissenschaftlichen Ansatz des
Postmodern writing, die Periodisierung des Post-boom und die
Bestseller literature die anglo-amerikanische Kategorienbildung.
In dem Bemühen, die Ausgrenzung von Frauen aus dem in Lateinamerika
ebenso wie in Europa und Nordamerika etablierten Literaturkanon zu
korrigieren, hat die Herausgeberin bewußt Beiträge über bisher in
anderen Literaturlexika und -geschichten nicht zitierte
Schriftstellerinnen aufgenommen. So findet man einen zweiseitigen
Eintrag über die kolumbianische Autorin des ausgehenden 19.
Jahrhunderts Soledad Acosta de Samper, die in anderen
Literaturgeschichten keine Erwähnung findet oder nur als eine
Vertreterin der zu jener Zeit blühenden Tradition historischer Romane[3]
namentlich genannt wird. Da die Enzyklopädie auch die frankophone
Literatur der Karibik einbezieht, wird aus diesem Kulturkreis zum
Beispiel die 1938 geborene Simone Schwarz-Bart zitiert, die in
Guadeloupe aufwuchs und über Frauenschicksale der Antillen schreibt.
Hier, wie im Falle von Juana Manuela Gorriti, erscheint eine
Erweiterung des Literaturkanons auf relativ unbekannte Autorinnen in
dem erklärten Bemühen um eine Korrektur männlich geprägter Sichtweisen
jedoch immer dann problematisch, wenn die aufgefundenen Werke
literaturwissenschaftlichen Beurteilungskriterien nicht genügen bzw.
einem Vergleich mit anderen zeitgenössischen Textzeugnissen einfach
nicht standhalten. Als "Bestsellerautorinnen" erhielten Isabel Allende
und Laura Esquivel eigene Einträge, auch hier wieder manifestiert sich
die am Erkenntnisinteresse englischer und amerikanischer Studierender
ausgerichtete Auswahl. Die in Europa aufgrund ihrer ins Französische
und Deutsche übersetzten Werke durchaus bekannten jüngeren Autorinnen
werden nicht (Teresa Ruiz Rosas, Per£) oder lediglich in
Überblicksartikeln (Zöe Valdés, Kuba, Carmen Boullosa, Mexico)
erwähnt.
1.1.4. Bibliographische Hinweise und Register
Zur ersten Orientierung wurden dem Hauptteil eine alphabetische Liste
der Einträge sowie eine alphabetische Liste der Werke vorangestellt.
Sie wirken leider typographisch unübersichtlich, da die Ordnungswörter
nicht untereinanderstehen. Hier wäre eine Änderung in einer möglichen
zweiten Auflage wünschenswert. Die Alphabetical list of works (S. XIX)
mit ihren 64 Titeln enthält Verweisungen auf die Lexikonartikel mit
Seitenagabe. Werktitel mit eigenem Eintrag wurden durch Kursivdruck
hervorgehoben.
Der General index im Anhang erschließt Autoren-, Themen- und
Übersichtsartikel zu den einzelnen Ländern mit Seitenangabe.
Namensansetzungen erfolgen in der auch hierzulande üblichen Form, bei
spanisch-amerikanischen Doppelnamen wurde nach dem ersten Namen, bei
brasilianischen nach dem zweiten Namen mit Rückverweisungen von einer
Ansetzung auf die andere geordnet. Neuere bibliographischen Quellen
wurden bis 1996 berücksichtigt; damit ist der Band der aktuellste der
hier besprochenen Nachschlagewerke.
Die Übersichtlichkeit gewinnt erheblich dadurch, daß die Werke in
einem separaten Title index aufgeführt werden. Auch hier wieder am
Bedürfnis der Leserzielgruppe ausgerichtet, beinhaltet das
Titelregister sowohl alle in den Eintragungen erwähnten Werke in
Originalsprache als auch ihre englische Übersetzung mit jeweiligem
Datum der Erstveröffentlichung. Es führt noch einmal selbständige
Werke einschließlich der Übersetzungen ins Englische mit Jahresangabe
der Erstveröffentlichung auf. Die Verknüpfung mit den Einträgen
erfolgt durch Nennung des Autornamens, unter dem man im Hauptteil
weiterführende Informationen erhält, die jeweiligen Seitenzahlen
werden nicht angegeben. Das Fehlen von Seitenangaben ist insofern
verschmerzbar, als die bereits erwähnte Alphabetical list of works für
die Werke, die einen eigenen Artikel erhielten, eine entsprechende
Erschließung gewährleistet.
Kleine Ungenauigkeiten in den bibliographischen Angaben zu Autoren
oder Werken sollten in einer zweiten Auflage bereinigt werden. Un
viejo que leía novelas de amor des chilenischen Autors Luis Sep£lveda
erschien bereits 1989 und nicht, wie angegeben, 1992, sein Roman Mundo
del fin del mundo, der 1994 erschien, wird nicht erwähnt, obwohl der
aus dem selben Jahr datierende Titel Nombre de torero offenbar bekannt
war und aufgenommen wurde.
Mit knapp zwei Seiten fällt die Bibliographie allgemeiner
Nachschlagewerke recht knapp aus, ist aber für die Bedürfnisse
anglo-amerikanischer Studenten der Lateinamerikanistik vermutlich
ausreichend.
Biographische Angaben zu Mitarbeitern und Mitgliedern des
wissenschaftlichen Beirates schließen den Band ab.
Regine Schmolling
1.2. Diccionario enciclopédico de las letras de América Latina
(DELAL)
1.2.1. Aufbau und allgemeine Charakteristik
Das im Auftrage der Fundación Biblioteca Ayacucho in Caracas,
Venezuela herausgegebene Diccionario enciclopédico de las letras de
América Latina (DELAL) wurde von 1988 bis 1993 von 500 Mitarbeitern
aus 30 Ländern erarbeitet und zusammengestellt. Die ersten beiden des
auf drei Bände angelegten Lexikons sind bereits erschienen. Erstmalig
wird hier der Versuch unternommen, ein lateinamerikanisches
Literaturlexikon als ein multinationales Projekt unter Federführung
lateinamerikanischer Wissenschaftler mit internationaler Beteiligung
zu starten. Dieser Aspekt verdient es, besonders herausgestellt zu
werden, da die Gefahr eurozentristischer Sichtweisen oder
anglo-amerikanischer Kanonbildungen von vornherein ausgeschlossen ist.
Im Gegensatz zur Encyclopedia of Latin American literature (ELAL)
wurden vorkoloniale indigene Literaturen einbezogen. "Literatur" ist
in erweitertem Sinne definiert worden, die Auswahl umfaßt nicht nur
belletristische Literatur, sondern auch philosophische, philologische,
essayistische und historiographische Texte.
Da "Hispanoamerika" oder "Iberoamerika" Bezeichnungen sind, die eine
Einschränkung im ersten Falle auf spanischsprachige Länder und im
zweiten Falle auf spanischsprachige Länder unter zusätzlicher
Einbeziehung Brasiliens bedeutet hätten, wurde der Begriff
"Lateinamerika" gewählt: "America Latina es en nuestros días la
denominación aceptada internacionalmente para designar una realidad
histórica y cultural diferenciada, que engloba a México, el Caribe
insular y continental, Centro y Sudamérica." (Band 1, S. XII).
Hinsichtlich der einbezogenen Nationalliteraturen wurde Lateinamerika
als ein mehrsprachiger Kulturraum aufgefaßt "en el que se integran
tanto la cultura y las letras hispanoamericanas como las del Brasil,
del Caribe anglófono, francófono y neerlandés, las culturas
prehispánicas e indígenas." (S. XI).
Entgegen allgemein üblicher philologischer Forschungszusammenhänge,
denen zufolge Indianersprachen ein gesondertes Forschungsgebiet
außerhalb der Hispanistik oder Lateinamerikanistik darstellen,
orientiert sich das vorliegende Lexikon bewußt nicht an einer
"Latinität" im linguistischen Sinne, um Kulturzeugnisse in Náhuatl,
Quechua, Maya, Guaraní nicht ausschließen zu müssen.
Eigene Lexikonartikel erhielten die jeweils "herausragenden Autoren
eines jeden Landes", wobei Kriterien für die Auswahl
literaturwissenschaftlich nicht näher definiert wurden. Um den Umfang
zu beschränken, wurden Autoren, die jünger als Jahrgang 1940 sind,
nicht aufgenommen, die jüngste Schriftstellergeneration ist in diesem
ehrgeizigen Literaturprojekt also nicht verzeichnet. Allerdings wurden
zahlreiche Ausnahmen gemacht, wie im Falle von Isabel Allende (geb.
1944), José Agustín (geb. 1944), Gustavo Alvarez Gardeazábal (1945),
Cristina Peri Rossi (1942).
Die 633 Werke einzelner Autoren, die einen eigenen Eintrag erhielten,
wurden wie "Themen" behandelt, das heißt, sie wurden, anders als in
der ELAL, in einem Alphabet mit Autoren und Themeneinträgen geführt,
so daß Überblicksinformationen zu Autor und Werk nicht an einer Stelle
aufgefunden werden können. Um die Suche zu erleichtern, wurde jedem
Band ein Gesamtindex der behandelten "Themen" beigefügt, der nach
Autoren, Werken, Zeitschriften, Überblicksartikeln und anderen Themen
untergliedert ist.
Biographische Informationen sind auf ein Minimum reduziert "en
beneficio de un tratamiento dirigido más bién a presentar el carácter
y significación de su obra y sus ideas" (S. XV). Für biographische
Informationen verweisen die Herausgeber auf die Bibliografía selecta.
Diese Einschränkung ist vor dem Hintergrund akzeptabel, daß es sich
eben nicht um ein Autoren-, sondern ein Literaturlexikon handelt,
dennoch wäre eine Kurzbiographie wie in der ELAL eine begrüßenswerte
Zusatzinformation gewesen.
Eine ideologische und methodische Pluralität der Beiträge war
erwünscht; um eine gewisse Homogenität der Beiträge zu gewährleisten,
wurden die Artikel nach einheitlichen strukturellen Richtlinien
verfaßt. Im Gegensatz zu anderen Literaturlexika und -geschichten ist
hier der Anspruch internationaler Relevanz tatsächlich eingelöst, da
ausgewiesene Wissenschaftler (davon knapp ein Drittel
Wissenschaftlerinnen) aus Lateinamerika, den USA und Europa (aus
Deutschland Ulrich Fleischmann, Karl Kohut, Hans Otto Dill und Klaus
Meyer-Minnemann) für die Mitarbeit gewonnen werden konnten.
Werktitel werden in Originalsprache zitiert. Dort, wo es sich um
englisch-, portugiesisch- oder französischsprachige Titel handelt,
wurde in eckigen Klammern die spanischsprachige Übersetzung ergänzt.
Einen Schwerpunkt in der Auswahl stellen die mehr als einhundert
Literaturzeitschriften dar, fünfzig Artikel sind literarischen
Bewegungen oder Gruppen gewidmet. Die Verzeichnung der
Literaturzeitschriften ist besonders verdienstvoll, da die Periodika
der Avantgardelyrik als literarische Manifeste für das
Literaturverständnis wichtig waren, häufig aber schon nach wenigen
Ausgaben ihr Erscheinen einstellten und daher heute schwer beschaffbar
sind.
Trotz der damit entstandenen gattungsspezifischen Heterogenität wurden
fächerübergreifend Themen wie Tango, Bolero, Literatura de cordel
eigene Beiträge gewidmet, sofern sie wichtige Aspekte des kulturellen
Lebens in Lateinamerika widerspiegeln bzw. das literarische Schaffen
beeinflußt haben.
1.2.2. Adressatenkreis
Das Literaturlexikon richtet sich in erster Linie an ein
internationales akademisches Publikum der Lateinamerikanistik, das die
spanische Sprache beherrscht. Was für deutsche Wissenschaftler und
Studierende der Hispanistik bzw. Lateinamerikanistik hinsichtlich der
Informationssuche zu spanischsprachigen Autoren und Literaturen kein
Hindernis ist, dürfte jedoch den Altamerikanisten, Forschern der
Indianersprachen, den Gallo-Romanisten mit Forschungsschwerpunkt der
frankophonen Karibik oder den Anglisten mit dem Spezialgebiet der
anglophonen Karibikliteratur eine Rezeption einschlägiger Beiträge in
spanischer Sprache erheblich erschweren.
Schon aufgrund seines Umfangs ist das Lexikon nicht nur für den
punktuellen Einstieg geeignet. Über Querverweisungen und Register
erschließen sich auch übergreifende epochenorientierte oder
gattungsspezifische Fragestellungen.
1.2.3. Inhaltliche Gewichtung der Einträge
Die Artikel sind, je nach Bedeutung des Themas, unterschiedlich
gewichtet. So umfaßt der über Jorge Luis Borges neun zweispaltig
gedruckte Seiten plus drei Seiten Bibliographie, dazu kommen noch vier
separate Werkanalysen, so daß das Literaturlexikon hinsichtlich der
Informationstiefe sich mit gängigen Literaturgeschichten[4] messen
kann.
Biographische Zusammenhänge werden leider je nach Schwerpunktsetzung
durch die Mitarbeiter von Eintrag zu Eintrag unterschiedlich gewichtet
und darstellt. Während der Beitrag über den Mexikaner José Agustín
wenig Biographisches, sondern überwiegend Werkanalysen enthält, wurden
im Beitrag über das Gesamtwerk J. L. Borges biographische Hinweise
dort eingestreut, wo sie für das Verständnis des Werkes wichtig sind
und im Beitrag über den Autor der Jahrhundertwende Heriberto Frías
fast ausschließlich biographische Details gegeben. Die aufgrund der
großen Zahl der Mitarbeiter vermutlich unvermeidliche Heterogenität
der Darstellung der Autorenbiographien hätte durch das Hinzufügen
einer biographischen Kurznotiz im Anschluß an die Würdigung des
Oeuvre, wie sie in der ELAL erfolgte, korrigiert werden können.
Hinsichtlich der Präsenz schreibender Frauen am literarischen Kanon
sind von über 1000 Autoreneinträgen weniger als 100 den
Schriftstellerinnen des Kontinents gewidmet, was aber, wie bereits
erwähnt, weniger einer unreflektierten Kanonbildung anzulasten ist,
als vielmehr der historischen Realität entspricht: mit Ausnahme
weniger Frauen, wie zum Beispiel der mexikanischen Nonne der
Kolonialepoche Sor Juana Inés de la Cruz oder der Lyrikerin der ersten
Jahrhunderthälfte Gabriela Mistral haben sich Frauen erst in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in nennenswertem Umfang am
literarischen Diskurs beteiligt. In dem Eintrag über die
brasilianische Autorin Clarice Lispector hätten bibliographische
Hinweise auf die Beiträge der feministischen
Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixous nicht fehlen dürfen, die A
hora da estela als typisches Beispiel der "écriture feminine"
analysiert hat.[5]
Begrüßenswert ist die literaturtheoretische Transparenz der Beiträge.
Der Eintrag über Borges verweist auf unterschiedliche
Textinterpretationen je nach literaturwissenschaftlichem Ansatz
(russischer Formalismus, Strukturalismus, Semiotik), zum Beispiel
erfolgt ein Hinweis darauf, daß der Protagonist einer seiner
Erzählungen, Pierre Menard, geradezu zum Axiom der Intertextualität
wurde (S. 701).
Da es sich um ein Literaturlexikon von Wissenschaftlern überwiegend
lateinamerikanischer Provenienz handelt, wurde auf Etikettierungen
nach eurozentristischem bzw. angloamerikanischem Rezeptionsmuster, wie
Definitionen des so intensiv vermarkteten Realismo mágico (Asturias,
García Márquez u.a.) und der "Boom-Autoren" der 60er Jahre verzichtet,
die entstanden waren, um die angeblich neuen spezifisch
lateinamerikanischen Inhalts- und Ausdrucksformen zu charakterisieren.
Waren es international vor allem die mit "Exotik" und "Mythenbildung"
assoziierten sogenannten "Boom-Autoren", deren Oeuvre rezipiert wurde,
so korrigieren die ELAL und DELAL das Bild insofern, als auch die
kosmopoliten Avantgardisten der 20er Jahre (José Juan Tablada, Olivero
Girondo, Vicente Huidobro, Leopoldo Lugones, César Vallejo), die
stärker einer europäischen Kulturtradition verpflichtet waren,
entsprechend ihrer Bedeutung gewürdigt werden.
1.2.4. Bibliographische Hinweise und Register
Bibliographische Hinweise in Form einer Auswahlbibliographie,
untergliedert in Primärliteratur (A) und Sekundärliteratur (B) im
Anschluß an jeden Eintrag, dienen der weiteren Orientierung, wobei,
wie allgemein üblich, die Werkbibliographie chronologisch, die
Sekundärliteratur alphabetisch nach Verfassern geordnet wurden. Eine
Aktualisierung der Werkbibliographien bei der Endredaktion[6] hätte man
bei einem so groß angelegten Projekt erwarten können.
Ein Register der Artikel, gegliedert nach Autoren, Werken,
literarischen Zeitschriften, literarischen Bewegungen/Gruppen und
Temas diversos, erleichtert den Zugang. Querverweisungen im Text auf
andere thematisch verwandte Einträge ermöglichen die Verfolgung von
umfassenderen Fragestellungen. Eine Verweisung im Artikel über Borges
auf den Beitrag über Adolfo Bioy Casares wäre wünschenswert gewesen.
Auch hier wurde bei den in Lateinamerika üblichen Doppelnamen der
Namensansatz gemäß den international üblichen Gepflogenheiten gewählt.
Eine leidvolle Erfahrung aller Lateinamerikanisten ist jedoch die
stets unterschiedliche Handhabung der Namensansetzung im Falle der
bedeutendsten Dichterin des kolonialen Amerika, der mexikanischen
Nonne Sor Juana Inés de la Cruz (Ordensname; eigentlicher Name: Juana
Pérez de Asbaje), die hier unter Sor Juana Inés de la Cruz mit
Verweisung von Juana zu finden ist.[7] Unverständlich ist die
Namensansetzung von José Agustín unter dem Vornamen und entsprechende
Einordnung im Alphabet unter J; der Werktitel Lo cubano en la poesía
des kubanischen Dichters Cíntio Vitier wurde unter L eingeordnet,
obwohl generell Artikel am Anfang von Werktiteln nicht ordnen. Eine
mögliche zweite Auflage sollte derlei formale Ungereimtheiten
korrigieren.
Für Band 3 wird eine Bibliografía general angekündigt, die nach
Regionen und Ländern gegliedert weiterführende Literatur
(Literaturgeschichten und Überblickswerke, Lexika, bibliographische
Quellen zu einzelnen Regionen) enthalten wird und einen
systematischen Zugang zu den Besonderheiten einzelner
Nationalliteraturen des Kontinents ermöglichen soll.
Regine Schmolling
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