Von der Verzeichnung ausgenommen sind bei den Manuscripta musica die
mittelalterlichen Choralhandschriften, da sie in derselben
Katalogreihe bereits von Konrad Wiedemann im Rahmen der Manuscripta
theologica verzeichnet wurden.[3] Dies überrascht nicht, wird doch die
Verzeichnung der Kasseler Handschriften insgesamt nach ihrer
Einteilung in Fachgruppen vorgenommen, zudem erscheint eine Trennung
der Voll-Missalia - also derjenigen mit Notation - von den übrigen
Missalia und Liturgica ohne Notation wenig sinnvoll. Auf diese Weise
wird der Umfang des vorgestellten Bandes auf immer noch gut 900 Seiten
beschränkt.
Bei der Kasseler Handschriftensammlung handelt es sich im wesentlichen
um ein Erbe der hessischen Landgrafen. Zu den wertvollsten Teilen des
Bestandes gehören Reste der Fuldaer Klosterbibliothek sowie die 1686
durch die pfälzische Erbschaft aus Heidelberg nach Kassel gelangte
"jüngere Palatina". Im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses
gelangte 1803 ein größerer Bestand theologischer und juristischer
Handschriften aus der Bibliothek des Kollegiatstiftes St. Peter am Dom
zu Fritzlar nach Kassel.
Auch unter den musikalischen Handschriften findet sich Herausragendes.
Zeitlich umfaßt der Katalog Werke, die zwischen 1452 und 1941 zu
datieren sind, wobei aus den einzelnen Jahrhunderten sehr
unterschiedlich viele Zeugnisse erhalten sind. Während aus dem 15.
Jahrhundert nur zwei handschriftliche Zeugnisse vorliegen, sind dem
16. Jahrhundert bereits erheblich mehr - nämlich 45 - zuzuordnen.
Zahlenmäßig am stärksten vertreten sind das 17. und das 19.
Jahrhundert (288 bzw. 352 Zeugnisse). Dagegen stammen aus dem 18. und
dem 20. Jahrhundert nur 79 und 20 Handschriften.
Das Zeitalter der Reformation ist besonders gut durch den Nachlaß des
Hofkapellmeisters Johannes Heugel (ca. 1510 - 1585) vertreten, der
während seiner etwa 50 Jahre währenden Amtszeit als Kasseler
Kapellmeister eine große Anzahl an Werken komponierte, die sich
ausnahmslos in Stimmbüchern erhalten haben.
Unter Landgraf Moritz von Hessen ("dem Gelehrten", regierte 1592
- 1627) erlebte das Kasseler Musikleben um und nach 1600 seinen
Höhepunkt. Moritz schickte ehemalige Kapellknaben - darunter auch
Heinrich Schütz - nach Venedig, um bei Giovanni Gabrieli (um 1555
- 1612) zu lernen. Dadurch war die venezianische Mehrchörigkeit am
Hofe eingeführt, die sich in relativ zahlreichen wichtigen Quellen des
Bestands dokumentiert (Gabrieli, Monteverdi, Schütz).
Durch Landgraf Wilhelm VI. (ab 1649) kam bereits Musik des
Generalbaßzeitalters nach Kassel, die sich u.a. in den Kompositionen
von Valentini, Ebner und Kerrl manifestiert. Landgraf Karl, der ab
1677 regierte und selbst ein guter Gambenspieler war, förderte
besonders die Musik für dieses Instrument, wodurch in den Kasseler
Bestand einige Gamben-Tabulaturen gelangten.
Zeugnisse des Opernbetriebs im 18. Jahrhundert sind nur spärlich
vertreten. Dies hängt damit zusammen, daß der ab 1730 regierende
Landgraf Friedrich gleichzeitig König von Schweden war und die
Residenz in Kassel lediglich zweimal besuchte. So wurde die Hofkapelle
1730 zunächst aufgelöst und erlangte - auch durch die französische
Besetzung während des Siebenjährigen Krieges bedingt - bis in die
1770er Jahre hinein nicht mehr die Bedeutung wie noch ein Jahrhundert
zuvor. Hingegen finden sich für die folgenden Jahrzehnte viele
aufschlußreiche Zeugnisse zur bürgerlichen Musikausübung durch
Sammlungen, die das damalige Repertoire an deutschen Liedern, Arien,
Klavierwerken u.ä. widerspiegeln. Typisch ist dabei für den privaten
Bereich der Musikausübung - und das zeigt auch der Kasseler
Handschriften-Bestand -, daß in der Hauptsache Werke heute unbekannter
Komponisten den größten Anteil erhaltener Kompositionen ausmachen.
Allerdings umfaßt der Bestand auch so wichtige Quellen wie das
Notenbuch für Wilhelmine Schröder-Devrient, das Lieder von Robert und
Clara Schumann enthält. Als weitere Schwerpunkte der Sammlung finden
sich das Repertoire der Casselschen Liedertafel (aus dem Zeitraum von
1830 bis etwa 1880) und der Teilnachlaß Louis Spohrs. Weitere
Nachlässe des 19. Jahrhunderts zwangen Gottwald mehrfach, zu
entscheiden, wie genau die Verzeichnung erfolgen sollte. Die von der
DFG geforderte Trennung von Handschriften- und Nachlaßkatalogisierung
ließ sich für den Kasseler Bestand nicht durchhalten. Der Bearbeiter
mußte daher je nach Bedeutung und Umfang der nachgelassenen Quellen
zwischen einer ausführlichen Aufnahme und einer eher kursorischen
Erfassung wählen.
Gottwald hat die Kasseler Bestände nicht nur präzise und ausführlich
nach den allgemeinen DFG-Richtlinien aufgenommen und beschrieben,
sondern auch kenntnisreich kommentiert. Durch sein großes Fachwissen
waren ihm viele aufschlußreiche Erläuterungen zu den Komponisten wie
auch zu ihren Werken möglich. Mit großer Sachkenntnis zieht der
Bearbeiter häufig Querverbindungen und macht Anmerkungen, die relevant
und informativ für den disparaten Bestand der Musikalien sind.
Bemerkenswert ist auch, daß Gottwald mittels einer mehrwöchigen
Recherche im Staatsarchiv Marburg einen Papiermarken-Katalog
erstellte, der die genauere Datierung einiger wichtiger Handschriften
(u.a. Schütz-Handschriften) erlaubte.
Zur formalen Seite des Katalogs ist besonders das großzügige Druckbild
zu erwähnen. Dadurch vergrößert sich der Umfang des Bandes allerdings
auf gut 900 Seiten, der durch sein Gewicht schlecht handhabbar ist.
Eine Teilung in zwei Halbbände wäre vorzuziehen gewesen, zumal sie
sich einfach nach einem formalen Kriterium (z.B. ab den
4ø-Handschriften) hätte finden lassen.
Der Erschließung der Bestände dienen die zahlreichen handgeschriebenen
Notenincipits, die überall dort vorhanden sind, wo nicht bereits eine
Gesamtausgabe oder entsprechende Werkverzeichnisse vorliegen.
Hilfreich wären zur Benutzung jedoch noch einige Hinweise allgemeiner
Art gewesen: So erweist es sich zwar rasch, daß im Beschreibungsteil
alles aus den Quellen Übernommene kursiv, alles andere gerade gesetzt
ist, daß Erschließungen des Bearbeiters in spitzen Klammern erscheinen
und hochgestellte Zahlen nach einer Jahrhundertangabe nicht auf eine
Fußnote hinweisen, sondern auf 1. Hälfte bzw. 2. Hälfte. Dies alles
wäre jedoch auch eines Wortes vorab wert gewesen. Schlicht als Mangel
empfindet die Rezensentin jedoch das Fehlen eines Verzeichnisses der
bei der Beschreibung verwendeten Abkürzungen[4] (in der Beschreibung
werden z.B. T für Text und A für Ausgabe sowie einige weitere
Buchstabenkürzel verwendet, die sich bei der erstmaligen Benutzung
eines solchen Katalogs nicht von selbst erschließen). Außerdem finden
sich einige nicht aufgelöste Fundorte, so handelt es sich z.B. bei
Tübingen SLMA (S. 357) vermutlich um Tübingen, Schwäbisches
Landesmusikarchiv. Im Notfall - und sicherlich aus Platzgründen
gerechtfertigt - hätte auch der Hinweis genügt, auf welche Liste an
Abkürzungen (z.B. RISM-Sigel) sich die hier verwendeten Kürzel
beziehen.
Erschlossen wird der Katalog durch drei Register, ein Verzeichnis
Initien und Titel, ein Register Instrumentalmusik und ein Personen-,
Orts- und Sachregister. Beim letztgenannten Register ist es jedoch
ungewöhnlich, den sicher häufig gesuchten Namen Schütz unter Schutz
eingeordnet zu finden. Auch hier scheint die Endredaktion nicht mit
ausreichender Sorgfalt vorgenommen worden zu sein.
Die Bedeutung des Bestandes und die ausführliche, präzise und
weiterführende Erschließung empfehlen den vorliegenden Katalog für
große wissenschaftliche Bibliotheken mit Musikalienbestand.
Martina Rebmann
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