Die Katalogisierung handschriftlichen Materials ist dagegen immer mit
der Erfassung von Einzelstücken befaßt, auch wenn es sich inhaltlich
um ganz gängige und weit verbreitete Texte handeln mag. Entscheidend
für den Grad an Individualiät, der einem Buch beigemessen wird, ist
somit die Singularität der Umstände seiner Entstehung. So gesehen ist
ein Druck eben immer erst einmal ein Druck, selbst wenn er von
vornehmster Provenienz ist oder Spuren einer abenteuerlichen
Geschichte an sich trägt. Der Katalog der Rosenthal-Sammlung
gedruckter Bücher mit handschriftlichen Annotationen ist ein
Zwischending. 35 Jahre lang, von 1960 bis 1995, sammelte Bernard M.
Rosenthal Bücher, die von Hand ergänzte oder kommentierte Drucke
enthielten. Bibliothekare und wohl mehr noch Leser mit bibliophilen
Neigungen haben nun sicher ein eher gespanntes Verhältnis zu
handschriftlichen Randbemerkungen in Büchern. Ihnen spricht noch heute
Kurt Tucholsky aus tiefster Seele mit seiner "Kleinen Bitte", das
Schreiben von Marginalien doch zu unterlassen - auch wenn sich seine
Aufforderung in erster Linie auf Bücher aus öffentlichem
Bibliotheksbesitz bezog.[1] Wenn aber Annotationen aus hinreichend weit
entfernten Zeiten stammen und gar nur wenig jünger sind als der Druck
selbst, dann ist die Sache irgendwann eine andere. Umfangreiche
handschriftliche Anmerkungen können eine Wertigkeit bekommen, die der
druckgeschichtlichen Bedeutung eines Buches gleichkommt oder sie sogar
übertrifft, auch dafür gibt es immer wieder Beispiele.
Rosenthals Sammlung von 160 Bänden mit insgesamt 242 Druckwerken ganz
überwiegend des 15. und 16. Jahrhunderts wurde 1995 von der Beinecke
Rare Book and Manuscript Library der Yale University erworben. Der
dazugehörige Katalog beruht trotz der redaktionellen Leistungen von
Robert G. Babcock und seines Stabes in erster Linie auf den
Vorarbeiten von Rosenthal selbst.
Es sind nicht die ganz großen Namen aus der Geschichte der frühen
Neuzeit, die in den aufgenommenen Büchern ihre Spuren hinterlassen
haben, und es sind beileibe nicht nur die weisesten Notizen, die sie
als Randbemerkungen in ihren Büchern festgehalten haben. Der Aufwand
und die Mühe, die ihnen der Katalog angedeihen läßt, dürfte sie
deshalb um so mehr ehren. Die Bücher gewinnen jedenfalls ihre ganz
persönliche und unverwechselbare Note, auch wenn nicht jeder Schreiber
mit Namen und Daten ermittelt werden kann. Die Anordnung erfolgt
alphabetisch und nach den 160 buchbinderischen Einheiten, den
Gesamtbestand mit allen 242 Drucken erschließt eine einleitende
short-title list, der eine chronologisch angelegte Auflistung aller
Drucke folgt. Die Aufnahmen folgen jeweils demselben Muster, sind
allerdings unterschiedlich lang ausgefallen. Sie beginnen mit einer
knappen Beschreibung des Druckes, regelmäßig mit Kollationsformel, und
einem knappen Kommentar zum Werk. Es folgt dann die Beschreibung der
handschriftlichen Zusätze, deren Verteilung auf interlineare
Bemerkungen und Anmerkungen "am Rande" ebenso festgehalten wird wie
ihr Umfang an Worten (!). Sie werden in aller Kürze charakterisiert,
inwieweit sie etwa dem bloßen Textverständnis dienen oder schon
Interpretationsansätze sind. Längere Kommentare werden mit Incipit und
Explicit angegeben, ab und an hat man in diesem Abschnitt auch
kleinere Textpassagen und die darauf bezogenen Bemerkungen einander
gegenübergestellt. Ob die Bewertung der Handschriften und ihre
Einordnung in jedem Falle zutreffend sind, kann nur ein Paläograph
beurteilen. Leider werden die zu jedem Buch beigesteuerten Abbildungen
jeweils einer Seite in dieser Frage nicht weiterhelfen können, da ihre
Qualität - im Unterschied zum Druckbild des eigentlichen Textes
- nicht gerade überzeugend ist. Die Katalogisate werden mit Angaben
über Provenienzen, den Erhaltungszustand und Literaturhinweisen
abgeschlossen. Am Ende des Bandes findet sich nach einem
Literaturverzeichnis schließlich das für die Themenstellung des Werkes
vielleicht interessanteste Register, nämlich das der Owners and
annotators.
Es sind natürlich gerade die Glossen und Marginalien, die das
einheitsstiftende Element dieser Sammlung und das Besondere am Katalog
darstellen. Die Zusammenstellung der Drucke war letztlich nur vom
Vorkommen handschriftlicher Zusätze abhängig, weitere Kriterien der
Auswahl gab es offensichtlich nicht, so daß dem Ergebnis trotz allem
der Makel des Zufälligen anhaftet.[2]
Vieles wäre sicherlich noch zu vertiefen gewesen, angefangen etwa bei
den Beschreibungen der Einbände, aber auch in der Rekonstruktion des
Schicksals einzelner Bücher und in der Bewertung der Zugaben.
Rosenthal hat selbst darauf hingewiesen, daß er nur Material
bereitstellen wollte, ohne es zugleich in aller Tiefe wissenschaftlich
erschließen zu können (S. 12). Das zeigt, daß die Beschäftigung mit
der Rezeption von Texten und Büchern - darum geht es ja und diesem
Ansatz fühlte sich wohl auch Rosenthal verpflichtet (S. 10) - noch
sehr viel Arbeit machen und hohe Anforderungen an paläographische,
philologische, geistesgeschichtliche, druck- und literaturhistorische
Kenntnisse künftiger Bearbeiter stellen wird. Mit dem Katalog der
Rosenthal-Sammlung als einem Beispiel für einen neuen Verzeichnistypus
ist ein interessanter Anfang gemacht, der vielleicht zu weiteren
Forschungen, auch Ergänzungen und Korrekturen, anregt. Wünschenswert
wäre es allemal, wenn auch andere Sammler und Bibliotheken ihre
annotierten Drucke in dieser Form publizieren würden, aber man braucht
kein Prophet zu sein um vorauszusehen, daß zumindest die großen
öffentlichen Sammlungen etwas Vergleichbares bis auf weiteres nicht
werden vorlegen können. Wen das in diesem Katalog realisierte Konzept
interessiert, der sei darauf hingewiesen, daß die Vorrede Rosenthals
in etwas veränderter Form auch in The papers of the Bibliographcal
Society of America. - 91 (1997),4, S. 485 - 494 erschienen ist.
Joachim Migl
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