Ein noch heute bestehender Verlag mit jahrhundertelanger Tradition
darf sich glücklich schätzen, wenn er einen Bearbeiter seiner
Geschichte findet, der in der Lage ist, einen einigermaßen
geschlossenen Rückblick zu präsentieren. Die meisten Historiographen
großer Verlage sind mit einer Quellenlage konfrontiert, die sie
eigentlich sehr bald zur Aufgabe ihrer Absichten bewegen müßte.
Dennoch gibt es zahlreiche Beispiele für gut recherchierte
Verlagsgeschichten, denen kein erhalten gebliebenes Verlagsarchiv als
Rückgrat dienen konnte. Man denke nur an die vorbildliche Darstellung
von R. Wittmann über den Metzler-Verlag.[2]
Die Geschichte der Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp.
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann zunächst als ein
weiteres Beispiel für eine gelungene Verlagsgeschichte trotz
ungünstiger Ausgangsposition gelten. Dennoch wirft sie verschiedene
Fragen auf. Warum ist die noch heute renommierte Orell Füssli AG in
Zürich ohne erkennbaren Einfluß auf die Darstellung dieses Ausschnitts
ihrer Wirkungsgeschichte geblieben? Warum wurde eine so
außerordentlich kurze Zeitspanne (verglichen mit der über 475jährigen
Tradition der Firma) für die Untersuchung ausgewählt? Von welchem
Nutzen kann eine Verlagsbibliographie sein, die 38 Jahre aus der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dokumentiert?
Die Antworten finden sich nur zum Teil in der Einleitung.
"Beabsichtigt ist keine Firmenschrift ...", es handele sich vielmehr
um einen "Beitrag zur historischen Topographie der Aufklärung", der
hier als "Überarbeitete Fassung der Dissertation an der
Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität
Münster von 1989" vorliegt. Kurioserweise ist die Dissertation
bibliographisch nicht nachweisbar, so daß ein Vergleich der Fassungen
entfallen muß. Mit dem Namen des Verfassers verbindet man neben
etlichen Beiträgen zur Buchgeschichte die 1988 übernommene Bearbeitung
der Bibliographie Deutsche Drucke des Barock 1600 - 1720.[3]
Der Autor scheint den Wert seiner Untersuchung selbst einschränken zu
wollen, wenn er erläutert: "Der Versuch, die Verlagsproduktion unter
dem zeitgenössischen Leitgedanken der 'Aufklärung' vorzustellen,
sollte nicht dazu verleiten, post festum ein aufklärerisches oder
antiaufklärerisches Verlagsprogramm zu postulieren. Vielmehr lassen
sich anhand der 667 in der Bibliographie verzeichneten Ausgaben
Tendenzen und immanente Widersprüche der Aufklärung, eine große
formale und inhaltliche Vielfalt und schließlich das Nebeneinander von
guter und schlechter, wegweisender und ephemerer Literatur ablesen"
(S. 13). Die Bibliographie der Verlagswerke umfaßt einschließlich
Vorbemerkungen und Register die Seiten 178 bis 248. Die Titelaufnahmen
erfolgten "in Anlehnung" an die PI und sind "bis auf wenige Ausnahmen
nach Autopsie der Werke angefertigt" (S. 178), wobei im wesentlichen
auf die Bestände der Zentralbibliothek Zürich (mehrheitlich) und der
Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel zurückgegriffen wurde. Die
bibliographische Beschreibung ist ausführlich und nur im üblichen
Umfang um Motti und längere Zusätze zum Sachtitel gekürzt. Sie ist
erweitert u.a. um die Angaben der benutzten zeitgenössischen Quellen
(Meßkataloge, Verlagsverzeichnisse) und der ermittelten Preise
(zeitgenössisch und aus Russells Gesammt-Verlags-Katalog). Bedeutend
vermehrt wird der Wert der Bibliographie noch dadurch, daß auf
zeitgenössische Rezensionen hingewiesen wird, wenn auch - wie nicht
anders zu erwarten - "ohne Anspruch auf Vollständigkeit".
Zur Anlage der Bibliographie ist zu erfahren, sie sei "chronologisch
und innerhalb der Chronologie alphabetisch angeordnet. Werke, die über
einen längeren Zeitraum erschienen, sind dem jeweils ersten
Erscheinungsjahr zugeordnet." Daß jedoch das im letzteren Satz
ausgedrückte Prinzip die einfache Logik des ersteren auszuhebeln im
Stande sein soll, wird nirgendwo beschrieben, geschweige denn
begründet. Und so ist es denn - jedenfalls nach dem ersten Augenschein
- nur schwer zu begreifen, warum für den leicht überschaubaren
Berichtszeitraum von nur einem Jahr auf eine alphabetische Anordnung
der Ordnungsworte ein Anhang mit willkürlich nachgeordneten weiteren
Titeln folgen muß. Für die Jahre 1771 und 1795 sind es gar acht Titel,
die sich der alphabetischen Einordnung unter ihrem ersten Ordnungswort
entziehen. Erst bei genauerem Hinsehen wird man gewahr, daß sich ein
weiteres Ordnungsprinzip eingeschlichen hat, das man zwar erkennen,
aber doch kaum billigen kann. Mehrbändige Werke werden, wenn sie nicht
innerhalb eines Jahres erschienen sind, numerisch nach ihren
Erscheinungsjahren als dem (verborgenen) ersten Ordnungselement
sortiert! So ergibt sich z.B. für 1795 folgende Ordnung: FISCH, Johann
Georg; GESSNER, Salomon; ...; MEISTER, Jakob Heinrich; MEISTER,
Leonhard; MILBILLER, Josef; WOLF, Peter Philipp; [1795 - 96] EGGERS,
Christian Ulrich Detlev von; [1795 - 96] HENDRICH, Franz Josias von;
[1795 - 96] RAHN, Johann Heinrich; [1795 - 97] BETTAGSOPFER; [1795
- 97] BRONNER, Franz Xaver; [1795 - 97] MEINERS, Christoph; [1795
- 97]
SARTORI, Joseph von; [1795 - 1801] BRUN, Sophie Christiane Friederike.
Diese unkomfortable Anordnung wird durch ein Alphabetisches
Verzeichnis der Autoren und Titel (mit Übersetzern, Herausgebern,
Illustratoren, Praesides u. Respondenten) (S. 237 - 248), zum guten
Teil wieder ausgeglichen. Doch auch das hat wieder seine Tücken, weil
es sich z.B. in der Anordnung der Sachtitel mal mehr, mal weniger an
die PI anlehnt. So findet man den Titel Kurze Anweisung für das
Landvolk ... nicht unter Anweisung kurze, sondern unter Anweisung für
das Landvolk und eine Kurze Anweisung zur griechischen Sprache ...
unter Anweisung zur griechischen Sprache, Kurze.
Das Verzeichnis will keinen "Anspruch auf Vollständigkeit erheben" (S.
178), und das kann auch niemand erwarten. Es ergab sich schon aus
einer einzigen Stichprobe nach dem Zufallsprinzip, daß ein weiterer
Titel nachzutragen sein wird. Im Stuttgarter Online-Katalog findet man
durch Kombination von Verlag (Orell) und Jahr (1761 - 1798) u.a. den
Nachweis des Titels Marcus Antonins Betrachtungen über seine eigensten
Angelegenheiten / aus d. Griech. übers. von J. G. Schultheß. - Zürich
: Orell, Geßner & Fueßlin, 1779. - VIII, 204 S., vorhanden in der
Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Es kann sich nur um den
Einzeldruck des ersten Beitrags aus dem 3. Band der Bibliothek der
griechischen Philosophen (in der vorliegenden Bibliographie Nr. 326)
handeln. Doch selbst den letzteren findet man im Register nur mit
einiger Phantasie, nämlich unter Antonius [!], Marcus Aurelius, und
eben nicht (oh wie so pRAKtisch) unter Marcus Aurelius Antoninus
<Imperium Romanum, Imperator>.
Diese kleinen Punkte der Kritik an Details der Verlagsbibliographie
sollen ihren Wert als Ganzes nicht in Frage stellen. Das Verzeichnis
ist ohnedies nur als aufwendig recherchierte Ergänzung zur Darstellung
einer vom Verfasser gründlich erforschten Epoche eines bedeutenden
Verlages der deutschen Aufklärung zu verstehen. Als die Firma Orell,
Gessner & Co. 1761 gegründet wurde, konnte sie erst auf eine
dreißigjährige Tradition direkter Vorgänger zurückblicken. Doch schon
in ihren Anfängen als Rordorfsche Druckerei konnte sie sich der (auch
finanziellen) Unterstützung des schweizerischen Schriftstellers,
Kritikers und Kunsttheoretikers der frühen Aufklärung Johann Jakob
Bodmers erfreuen. Als sie sich schließlich 1770 mit der Firma Füssli &
Co. zusammentat, konnte sie sich bis auf die berühmte, schon 1519
begründete Froschauersche Druckerei zurückführen. Nun waren hier
angesehene Zürcher Bürger, der Ratsherr und Verleger Hans Conrad
Orell, der Dichter, Maler und Kupferstecher Salomon Gessner, der
Amtmann und Schriftsteller Heinrich Heidegger, der Ratsherr und
Teilhaber Hans Conrad von Escher und Johann Heinrich Füssli,
Nachfolger Bodmers als Professor für vaterländische Geschichte als
Besitzer einer Druckerei und als Leiter eines Verlags versammelt. In
der Folge konnten insbesondere die Schriftsteller und Verleger Füssli,
Heidegger und Gessner, dessen Idyllen den großen "Bestseller" der Zeit
neben Goethes Werther darstellen, großen Einfluß auf die
deutschsprachige und sogar auf die europäische Aufklärung ausüben.
Dies gezeigt und durch gründliche Quellenstudien belegt zu haben, ist
das Verdienst dieser Arbeit über "Aufklärung in Zürich". Es ist die
stellenweise spannend geschriebene Dokumentation einer Epoche der noch
nicht genügend erforschten Verlagsgeschichte des 18. Jahrhunderts
- auch für Bibliothekare lesbar.
Rainer Fürst
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