Die beiden deutschen Autoren nannten ihre "literaturhistorische und literaturkritische Abhandlung" Anmerkungen zum Kinder- und Jugendbuchland Westfalen. Derartige regionale Darstellungen sind besonders für Deutschland, wo durch den lange vorherrschenden Partikularismus viele kulturelle Zentren mit ihren Eigenheiten entstanden sind, interessant. Zugleich bieten sie Vorarbeiten oder Ergänzungen für eine Gesamtgeschichte der deutschen Kinderliteratur. Sie sind aber auch äußerst schwierig in der Abgrenzung, da die regionalen Gebilde vielen territorialen Veränderungen unterworfen waren. Auch "Westfalen" ist kein einheitliches Gebiet geblieben. Die Autoren äußern sich nicht, was sie als Kriterium eines westfälischen Kinder- und Jugendbuchautors oder eines westfälischen Kinder- und Jugendbuches betrachten. In der Einführung wird vom Katalog "über Westfalen-Lippe" gesprochen. Damit ist der Landschaftsverband Westfalen-Lippe innerhalb des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen gemeint. Später ist nur noch von Westfalen die Rede.
Die Autoren bemerken, daß "das typisch westfälische Kinderbuch, ein Kinderbuch also, das bestimmte westfälische Wesensmerkmale aufweist" bei ihren Untersuchungen nicht zum Vorschein kam. Vielmehr fanden sie "in Westfalen typische Beispiele für das, was es anderswo auch gibt und - mit Blick auf die Vergangenheit - anderswo durchaus besser gibt." Es "waren deshalb nur wenige westfälische Autoren auszumachen, die die Geschichte des Kinder- und Jugendbuches maßgeblich beeinflußt haben." Die Auswahl der behandelten Autoren erfolgt in der Weise, daß alle Strömungen und Tendenzen der deutschen Kinderliteratur zum Vorschein kommen. Begonnen wird mit der Vorstellung von acht "Verfassern der ersten Erziehungsschriften im Westfalen des 18. Jahrhunderts." Unter der Überschrift Von frommer Lektüre, patriotischer Gesinnung und Mädchentränen in Samt und Seide werden Werke von vierzehn Autoren des 19. Jahrhunderts vorgestellt. Fünf Autoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden unter Völkisches Gedankengut und Kriegseuphorie nebst Reformgedanken und schonungslosem Realismus aufgeführt. Die aussagekräftigen Überschriften weisen auf kritisch gehaltene Darstellungen. Es wurden somit 27 Autoren mit meist nur einem Titel für den Zeitraum von 1770 bis 1950 in chronologischer Folge vorgestellt. Die einzelnen Autorenporträts mit Textauszügen geben stichpunktartig gute Einblicke in die Höhen und Tiefen der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Ihre Aneinanderreihung ergibt aber noch keine Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Auch kann man Kortums Jobsiade, dieses komisch-satirische Heldengedicht, kaum zur Jugendliteratur zählen, ebensowenig Henrich Stillings Jugend. Hoffmann von Fallersleben wird als "zugereister Westfale" erst 1873 - kurz vor seinem Tode - mit der Zusammenfassung seiner Kinderliederausgaben durch Ludwig Erck (der gar nicht erwähnt wird) eingeordnet. Daß Hoffmann schon fast fünfzig Jahre früher (1827) begann, seine Kinderlieder zu publizieren und seine Sammlungen in drei Ausgaben 1843, 1845, 1847 und dann in immer neuen, z.T. ergänzten Auflagen herausbrachte, erfährt man nicht.
Mehr als die Hälfte des Umfangs ist der Vorstellung von 24 Autoren aus den vergangenen fünfzig Jahren gewidmet. Danach werden noch die Namen von über 60 Schriftstellern aufgeführt, "die heute in Westfalen für Kinder und Jugendliche schreiben."
Der Beitrag Kinderbuchillustratoren aus Westfalen, ist, besonders was den historischen Teil betrifft, äußerst knapp. Von den Illustratoren des 19. Jahrhunderts werden nur Theobald von Oer und Franz Müller-Münster in wenigen Zeilen vorgestellt, wobei die Todesjahre (1885 und 1936) nicht genannt werden. Auf die zahlreichen Bildwiedergaben der behandelten Kinderbücher wird gar nicht eingegangen. Diese Abbildungen sind durchweg ohne Angabe des Illustrators reproduziert, obwohl sein Name bei einigen der vorgestellten Kinderbücher auf dem Titelblatt steht. Doch meist wird nur Verfasser und Titel angegeben. So erscheint auch eine ganzseitige Illustration von Ludwig Richter ohne Nennung des Künstlers.
Die Darstellung der Geschichte der flämischen Kinder- und Jugendliteratur beginnt 1830 mit der Erringung der staatlichen Selbständigkeit Belgiens. Auf Grund der bisher begrenzten Anzahl von wissenschaftlichen Vorarbeiten, versuchten die Autoren dieses Teils "die Geschichte anhand exemplarischer Gegebenheiten zu rekonstruieren." Sie arbeiteten mit einer Reihe von Eckdaten, die sich sowohl auf das Erscheinen wichtiger Titel, Zeitschriften oder Reihen als auch auf die Entstehung bestimmter Genres beziehen. Diese ausgesuchten Fakten werden jeweils in einem kurzem Kapitel erläutert. Das behandelte Jugendbuch wird in den zeitlichen Kontext und in das Oeuvre des Autors eingeordnet. Es wurde nach Spuren der Rezeption gesucht und die Rolle der Verlage und öffentlichen Institutionen betrachtet. Dabei entstand eine gut lesbare detailreiche Geschichte der flämischen Kinder- und Jugendliteratur, in der auch die Literaturkritik behandelt wird. Vom ersten Beitrag Für Gottesfurcht und Tugend bis zu den Kapiteln Aus den Kinderschuhen und Namen, die man sich merken muß zeigt sie den schweren Weg von den ersten tendenziellen katholischen Schriften für Kinder, den Kampf gegen die kirchliche Zensur bis zu einer liberalen und emanzipierten Kinder- und Jugendliteratur.
Heute sind flämische Kinderbuchautoren national und international sehr
erfolgreich, so "daß ihre Bücher relativ häufig und auch schnell ins
Deutsche übersetzt werden." Bei den Fünfzehn Porträts zeitgenössischer
flämischer Autoren und Illustratoren findet man in der Bibliographie
ihrer Werke den Hinweis auf ihre ins Deutsche übersetzten Titel. Das
wünschte man sich auch bei den früheren Titeln. Eine 1993 erschienene
Bibliographie[1] nennt darüber hinaus viele deutsche Übersetzungen von
Autoren, die auch in der vorliegenden Geschichte der flämischen
Kinder- und Jugendliteratur behandelt werden. Im Literaturverzeichnis
wird diese Bibliographie nicht einmal erwähnt. Leider findet man auch
beim westfälischen Teil keinen Hinweis, welche dieser Titel auch im
Nachbarland erschienen sind.
Dieser Band ist großzügig ausgestattet mit ein- und mehrfarbigen
Illustrationen aus den Kinderbüchern, dem Abdruck von Titelblättern
und zahlreichen Autorenporträts. Bei der deutschen Geschichte sind die
biographischen Angaben im historischen Teil oft äußerst knapp, bei
einigen Autoren fehlt die Erwähnung ihrer weiteren Werke oder das
Todesjahr. Auch die bibliographischen Angaben sind oft unvollständig,
der Verlagsort und der Verlag fehlen meist. Sehr bedauern muß man das
Fehlen eines Registers. Eine Literaturgeschichte mit über fünfhundert
Seiten im Großformat ohne Register mindert die Nutzung beträchtlich.
Das Ganze ist ein gut gestalteter Ausstellungskatalog, der "Anstöße
für die weitere Forschung" geben und "zum überregionalen Vergleich
auffordern" wird.
Heinz Wegehaupt
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