Man darf es deshalb als Glücksfall erachten, wenn dieses weite Feld
von einem gleich mehrfach ausgewiesenen Fachmann beschritten wird.
"Von Haus aus" ist Albrecht Götz von Olenhusen Rechtsanwalt und
Experte für Autoren- und Verlagsrecht. Daneben ist er ein Kenner und
kompetenter Interpret der Schriften Walter Benjamins.[1] Und schließlich
ist er ein passionierter Sammler, dem das wohl umfangreichste Archiv
und die vollständigste Sammlung dieser - nennen wir sie der
Einfachheit halber "neueren" - Raubdrucke gehört.[2] In über 20 Kapiteln
durchstreift er in seinem Buch die Geschichte dieses Genres und
vermittelt gleichermaßen flüssig wie unterhaltsam ein umfassendes Bild
vom Aufkommen und der Verbreitung des Raubdrucks sowie von den
Absichten, die seine Hersteller mit ihm verbanden.
Am Anfang stand der einfache Wunsch, einem primär studentischen
Publikum Schriften aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, der
marxistischen Theorie, sozialphilosophische wie psychoanalytische
Klassiker wieder und zu erschwinglichen Preisen zugänglich zu machen.
Bei einigen dieser frühen Editionen handelte es sich um wahre
Pionier- und verlegerische Großtaten. Dazu zählen vor allem zwei
Zeitschriften-Reprints: die des Archivs für die Geschichte des
Sozialismus und der Arbeiterbewegung (das sog. "Grünberg-Archiv")[3] und
seines Nachfolgers, der Zeitschrift für Sozialforschung.[4] Mit diesen
Veröffentlichungen wurden seinerzeit erstmals zwei Publikationsorgane
wieder allgemein zugänglich, die bundesdeutsche Bibliotheken
allenfalls in äußerst lückenhaften Exemplaren verwahrten.
Daß die "Szene" von Anbeginn den Autoren und Schriften aus dem Umkreis
der sog. Kritischen Theorie ihre besondere Aufmerksamkeit zuwandte,
erklärt sich in erster Linie aus den damaligen theoretisch-politischen
Diskussionen innerhalb der Studentenbewegung. Im Zuge dieser Debatten
gelangten Ausgaben auf die universitären Büchertische, die nicht nur
teure, jedoch noch im Handel befindliche oder aber längst vergriffene
Bücher reproduzierten, sondern auch "originale" Neueditionen (meist
mit teils ausführlichen Erläuterungen über das Warum ihrer
Herausgabe). So schickte man - um hier nur ein Beispiel zu nennen
- dem Raubdruck[5] einer damals noch erhältlichen, zweibändigen Ausgabe
des S. Fischer-Verlages mit Aufsätzen von Max Horkheimer[6] kurz darauf
zwei weitere Bände Kritische Theorie nach, die Arbeiten von Theodor W.
Adorno, Herbert Marcuse und wiederum Horkheimer versammelten.[7] Und
einige dieser Raubdrucke blieben über Jahre hinweg die einzige
gedruckte Quelle gewisser Werke.[8] Darüber hinaus aber bestand das
Resultat dieser Raubdruck-Initiativen vor allem darin, entscheidend
zur weiteren, beschleunigten und zudem preisgünstigen Verbreitung
dieses Schrifttums beigetragen zu haben.[9]
Welche Bewegung die Raubdrucker seinerzeit in die Verlagslandschaft
brachten, führt das Kapitel Ein Raubdruck beschleunigt die Edition (S.
29 - 32) exemplarisch vor, in dem die Geschichte des frühesten
Benjamin-Raubdrucks nachgezeichnet wird: der seines Programms eines
proletarischen Kindertheaters im Rahmen einer politisch-pädagogischen
Veröffentlichung,[10] die vom Suhrkamp-Verlag umgehend mit der Herausgabe
eines Bandes früher Benjamin-Aufsätze beantwortet wurde, der eben auch
dieses Programm enthält.[11] Den durchaus zahlreichen
Benjamin-Raubdrucken - in der das Buch beschließenden Bibliographie
der Raubdrucke (S. 87 - 106) werden sie ausführlich und in all ihren
Varianten beschrieben - haben die Frankfurter Benjamin-Herausgeber
stets die kalte Schulter gezeigt, auch bibliographisch.[12] Über die
Beweggründe dieser Form des wissenschaftlichen Snobismus gibt es gar
nicht viel zu rätseln. Er wurzelt in den Polemiken, wie sie in den
60er Jahren bei der Debatte um die angemessenen Kriterien der Edierung
Benjaminscher Schriften statthatten. Im Zuge dieser Grabenkämpfe
zwischen Fraktionen, die sich theoretisch und politisch fast
spinnefeind waren, ging der Gedanke eines konstruktiven, sich
gegenseitig befruchtenden Diskurses fast zwangsläufig "über Bord". Was
bereits ausreichend Raum und Stimme bis in die Tagespresse hinein
gefunden hatte, wurde stellvertretend im Auf und Ab lizensierter und
unautorisierter Benjamin-Drucke fortgesetzt.
Insofern erfüllten die Benjamin-Raubdrucke insbesondere der 80er Jahre
auch diese Funktion: sie sind zugleich Kommentar, Korrektiv und
Ergänzung zur Edition der seit 1972 erscheinenden "kritischen" Ausgabe
von Benjamins Gesammelten Schriften. Diesen Aspekt streichen Götz von
Olenhusens Ausführungen zu zwei Raubdrucken aus dem Jahre 1983 noch
einmal nachhaltig heraus. Die Rede ist hier von einer Analystische
Beschrijving van Duitschlands's ondergang[13] betitelten Veröffentlichung
und von dem ebensowenig lizensierten Nachdruck des in der Edition
Suhrkamp erschienenen Passagen-Werks.[14] Bei der ersten Publikation
handelt es sich um die zweisprachige Veröffentlichung (einschließlich
deutscher Rück-Übersetzung) eines bislang nur in niederländischer
Übertragung überlieferten Benjamin-Textes. Er ist über weite Strecken
zwar identisch mit Vorfassungen des und dem Kaiserpanorama selbst aus
Benjamins Einbahnstraße, weicht aber in einigen Passagen entscheidend
von diesen ab. Nun findet sich im Apparat zu den Gesammelten Schriften
zwar ein Hinweis auf die Existenz dieser Publikation in der
Amsterdamer Zeitschrift i 10,[15] ja sogar eine Rück-Übersetzung der
Vorbemerkung;[16] aber ansonsten hat man es nicht für nötig befunden, die
einzelnen Abweichungen in den Lesarten zu verzeichnen (um von einem
Nachdruck und/oder einer vollständigen deutschen Rück-Übersetzung ganz
zu schweigen). Bei dem zweiten Raubdruck handelt es sich um eine
dreibändige Ausgabe des Passagen-Werks,[17] der ein Anhang mit Auszügen
aus den Korrespondenzen Benjamin - Horkheimer, Benjamin - Adorno und
Adorno - Horkheimer beigegeben wurde. Dieses bis heute überwiegend
unveröffentlicht gebliebene Material ergänzt die Dokumente zur
Entstehungsgeschichte des Passagen-Werks in der Absicht, der, wie es
in polemischer Zuspitzung heißt, systematischen "Zerstückelung und
Unterdrückung" in der "Editionspraxis" Rolf Tiedemanns
entgegenzuwirken.[18]
Wie ernst es die Raubdrucker mit dieser Korrektiv-Funktion bereits
frühzeitig nahmen, ist schließlich noch einem Projekt zu entnehmen,
von dem im Kapitel Kleinwiderspruch im Großkapitalismus (S. 64 - 69)
die Rede ist und das auf die Mitte der 70er Jahre zurückgeht. "Damals
war im Marburger Raum der ehrgeizige Plan entstanden, eine
Raubdruck-Edition von Briefen herauszubringen: Zwei Bände mindestens
sollte sie umfassen, in denen die Briefe Benjamins möglichst
vollständig und ungekürzt zusammen [!] mit Briefwechseln von Adorno
und Horkheimer erscheinen sollten" (S. 68). Dieses Projekt scheiterte
schließlich - u.a. an fehlenden finanziellen Mitteln.
Womit zuletzt noch dies belegt wird: wie abwegig die Vorstellung ist,
Raubdrucker hätten mit ihrem Gewerbe Reichtümer verdienen und anhäufen
können. (Das Kapitel ¯Börsenverein® gegen Raubdrucker, S. 69 - 75, ist
den geradezu abenteuerlichen Hoch- bzw. Millionen[!]-Rechnungen der
Vertreter des deutschen Buchhandels gewidmet.) Mit unautorisierten
Nachdrucken, insbesondere mit solchen derart anspruchsvoller Autoren
wie Benjamin, war entgegen allen anderslautenden Behauptungen und
Gerüchten eben kein Geld zu machen. Die Auflagen bewegten sich in
Höhen von wenigen Hunderten. Und wenn, wie im Falle des
Passagen-Werks, ein nicht lizensierter Reprint sogar einmal rasch
vergriffen war, so schuldete sich dieser Umstand eher der desolaten
Situation des "offiziellen" Buchmarkts: Denn die billige
Taschenbuch-Ausgabe desselben Werkes in der Edition-Suhrkamp war schon
bald nach ihrem Erscheinen nicht mehr erhältlich. Daß es sich beim
Raubdruck dennoch um keinen Bestseller handelte, mag man aus seiner
Auflagenhöhe ersehen: in gerade 500 Exemplaren wurde er seinerzeit
hergestellt.
Diese und andere Stationen der Geschichte des Raubdrucks durchstreift
Götz von Olenhusen, wobei seine Darstellung durchaus auch über Grenzen
hinwegsetzt, die der Begriff "Raubdruck" vorgibt: so beispielsweise im
Kapitel Eine DDR-Auswahl im Fadenkreuz (S. 19 - 22). Dort wird die
merkwürdige Geschichte einer Benjamin-Ausgabe im Leipziger
Reclam-Verlag 1970 erzählt, die aufgrund der Verletzung komplizierter
Lizensierungs-Verträge quasi über Nacht von einem ursprünglich
autorisierten zum "Raub"druck mutierte - so daß die nicht geringe
Restauflage dieses Buches schließlich eingestampft werden mußte. Und
am Ende schweift der Blick des Verfassers auch schon über jenes neue
Medium, das im Begriff steht, die ganze Rechtslage um das Copyright
durcheinanderzuwirbeln: das Internet, in dem sich bereits heute und
ungeachtet irgendwelcher Lizenz-Skrupel Texte und Bilder Benjamins
frei abrufen lassen.
Momme Brodersen
Zurück an den Bildanfang