Auch der Autor des Ballsport-Lexikons ist sich des Problems der Vollständigkeit durchaus bewußt. Zu Recht weist er im Vorwort darauf hin, daß die Frage, wieviele Ball- und Kugelspiele es gibt und gab, wenn überhaupt, dann nur mittels intensiver Studien und Feldforschungen, an denen Sportwissenschaftler, Historiker und Ethnologen interdisziplinär beteiligt sein müßten, beantwortbar ist. Aber selbst bei höchstmöglicher Perfektion in der Vorgehensweise könnte man dem Problem, daß Spiele, und hier vor allem kleine Sportspiele, täglich geboren und täglich gespielt werden, aber auch täglich wieder aussterben, kaum Herr werden. Eine wirkliche Aktualität wäre also trotz allen Einsatzes so gut wie nicht erreichbar.
Der Autor dieses Buches erhebt folglich keinen Anspruch auf erschöpfende Vollständigkeit und damit verbundene Perfektion. Auch legt er im Vorwort dar, daß seine Absicht nicht darin lag, ein Regelbuch oder ein Standardwerk über die geschichtliche Entwicklung der Ballspiele zu verfassen. Seine Intention war vielmehr, einen möglichst umfangreichen Überblick über alte und neue, noch gepflegte und längst ausgestorbene Ball- und Kugelspiele zu geben. Dabei möchte er auf bestimmte Zusammenhänge zwischen einzelnen Spielen hinweisen und dem Leser Kenntnisse vermitteln, "worum es bei American Football, Oina, Pato oder Zchenburti überhaupt geht" (Vorwort).
Angesichts dieser Aufzählung stellt sich dem Leser allerdings die Frage, ob man Spiele wie American football und beispielsweise Zchenburti in einem Atemzug nennen sollte. Die Aufzählung wirkt zufällig, was vielleicht sogar beabsichtigt ist. Eine genauere Analyse des Lexikons zeigt jedoch, daß gerade die Zufälligkeit, mit der bestimmte Spiele aufgenommen und andere weggelassen wurden, seine größte Schwäche ist. Verzicht auf Vollständigkeit ist angesichts der in diesem Lexikon behandelten Thematik durchaus legitim, darf aber keinesfalls als ein Freibrief für Zufälligkeit in der Vorgehensweise dienen und enthebt auch nicht von der Pflicht, besonders leicht erreichbare Quellen systematisch auszuwerten. Gerade indem der Autor im Vorwort deutlich macht, daß eine Vollständigkeit nicht erreichbar und somit eine Auswahl unumgänglich ist, hätte er die Kriterien dieser Auswahl erläutern müssen. Das Problem der Auswahl oder gar Auswahlkriterien werden jedoch mit keinem Wort erwähnt. Bevor hierauf aber weiter eingegangen wird, soll dargelegt werden, was in diesem Lexikon überhaupt enthalten ist.
Insgesamt werden etwa 320 Ball- und Kugelspiele vorgestellt. Behandelt werden sowohl die großen Sportspiele (wie bspw. Fußball, Handball, Basketball und Volleyball), kleine Spiele (z.B. Brennball, Burgball, Netzball, Tigerball und Sitzfußball), Kinderspiele (z.B. Büßerball), historische Spiele (etwa das historische italienische Fußballspiel Calcio, das japanische Polospiel Dakyu aus der Fujiwarazeit, 784 - 1192, das italienische Faustballspiel Pallone aus der Renaissance, die Urform des Federballspiels Griéche, das alte syrische hockeyähnliche Spiel Hockscha, die Urform des Fußballspiels Soule und das französische Jeu de paume als Vorläufer des Tennis) sowie neue Spiele mit Szenecharakter wie z.B. Streetball und Inline-Hockey. Bei den größeren Spielen werden folgende Aspekte mehr oder weniger ausführlich behandelt: historische Entwicklung, Herkunft und Verbreitung, Spielidee, Spieldauer und Mannschaften, Spielausrüstung, Spielfeldmaße und -aufteilung sowie Spielablauf und grundlegende Regeln. In einigen Fällen wird auch auf die Spieltechnik und Spieltaktik eingegangen. Viele der kleineren und unbekannteren Spiele werden dagegen sehr kurz behandelt, wobei geschichtlicher Ursprung, Spielidee und Regeln nur abrißartig dargestellt werden.
Auch wenn die Vielzahl der aufgelisteten Spiele (von denen viele selbst dem an Spielen interessierten Leser bislang unbekannt gewesen sein dürften) und die häufig detaillierten Informationen auf den ersten Blick beeindrucken, fallen doch beim näheren Hinsehen und Studium des Buches zahlreiche Lücken auf, die bei einer systematischeren Vorgehensweise ohne großen Aufwand hätten geschlossen werden können. Umgekehrt hätten dann die trotz dieser systematischen Vorgehensweise nicht schließbaren Lücken dem Leser plausibel gemacht werden können. So wäre es ein Einfaches gewesen, sich in einem ersten Zugriff an vorhandenen fachspezifischen Schlagwortinventaren oder Systematiken zu orientieren. Hier sind besonders zu nennen:
Der Sport thesaurus des kanadischen Sport Information Resource Centre,
der in seiner Ausgabe 1994 unter Ball game 78 Spiele auflistet, von
denen 16 in dem vorliegenden Lexikon nicht enthalten sind.[1] Die
Klassifikation zu den Ballspielen der Library of Congress, die mehrere
vom Autor des Ballspiel-Lexikons ignorierte Ballspiele enthält.[2] Die
Schlagwortliste der sportwissenschaftliche Literaturdatenbank SPOLIT[3]
des Bundesinstituts für Sportwissenschaft Köln. Auch hier finden sich
mehrer Ballspiele, die im Ballspiel-Lexikon fehlen.[4]
Auch die Systematik der Zentralbibliothek der Sportwissenschaften der
Deutschen Sporthochschule Köln enthält weitere Spiele.[5]
Es irritiert in diesem Zusammenhang, daß der Autor in seiner
Danksagung besonders die Bibliotheken der Deutschen Sporthochschule
Köln und des Bundesinstituts für Sportwissenschaft erwähnt. Wie hat
diese Hilfestellung ausgesehen bzw. wie hat der Autor sie genutzt?
Auffallend ist auch, daß bestimmte Standardwerke zu den Spielen zwar
in der Bibliographie aufgeführt sind,[6] diese aber nur zum Teil
ausgewertet wurden. Andere Werke wurden vom Autor völlig übersehen und
folglich auch nicht ausgewertet.[7]
Alle diese Defizite des Ballspiel-Lexikons hätten durch eine saubere,
unaufwendige Literaturrecherche vermieden werden können. Statt dessen
wählte der Autor den vorrangigen Zugangsweg über ausländische
Botschaften und die die jeweiligen Spiele vertretenden Sportverbände,
was sicherlich zu Ergebnissen führt, die aber offensichtlich alleine
nicht ausreichen.
Schwächen finden sich jedoch nicht nur im zugrundeliegenden
Quellenstudium und der damit verbundenen systematischen
Vorgehensweise, sondern auch beim Umgang mit den verarbeiteten Daten
wurden bestimmte naheliegende Möglichkeiten nicht genutzt. Hier ist
besonders das nicht schlüssige Verweisungssystem zu nennen. So wird
häufig von bestimmten Spielen auf andere größere und bekanntere Spiele
verwiesen, von diesen jedoch nicht zurückverwiesen. Verwandtschaften
zwischen bestimmten Spielen werden dem Leser so nur immer in einer
Richtung und eher zufällig offensichtlich. Überhaupt wäre es sinnvoll
gewesen, Spiele mit gleicher Spielidee systematisch untereinander zu
verweisen. Auch hätten aus den in dem Lexikon aufgeführten
Informationen ohne allzu großen Aufwand Stammbäume zu den
unterschiedlichen Spielefamilien erstellt werden und die
Verwandtschaftsverhältnisse somit (z.B. in einem Anhang) übersichtlich
ausgedrückt werden können.
Fazit: Eine Analyse des Ballsport-Lexikons macht deutlich, daß der
einleitende Hinweis des Autors auf eine nicht erreichbare
Vollständigkeit als Vorwand für eine unnötig zufällige Auswahl dient
und daß auch bei der Aufbereitung der im Buch verarbeiteten Daten
Chancen ungenutzt blieben. Nichtsdestotrotz verdient der Einsatz des
Autors, solch ein Lexikon überhaupt erstellt zu haben, eine Würdigung.
Immerhin ist das Buch trotz aller hier aufgeführter Schwächen auf dem
gegenwärtigen Fachbuchmarkt konkurrenzlos. Lexika verlangen
prinzipiell nach weiteren Auflagen. Diese sollten im vorliegenden Fall
als Möglichkeit der Verbesserung unbedingt genutzt werden.
Jürgen Schiffer
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