Ein Teil dieser Geschichte endete am 24. August 1870, als die deutsche Wehrmacht die Stadt bombardierte und auch Bücher brannten, Bücher, die uns vielleicht viel zu erzählen hätten. Sie entblößten die Stadt (Mme Zehnacker hat es beschrieben) von der Hauptmenge ihrer Inkunabeln, sie machten gleichzeitig frühere Nachrichten über Ausgaben und deren Eigenheiten unüberprüfbar. Penible Bibliographen streiten seither über den Wahrheitsgehalt von Johannes Nicolaus Weislingers Notaten aus dem Jahre 1749, manche Skepsis wird wohl unaufgelöst bleiben.
Auf das Desaster folgte ein Neubeginn. Mme Zehnacker spiegelt ihn deutlich: Man mag über die dem Krieg folgende Kompensationsaktion kaiserlicher Kultusadministrationen spotten, sie hat in der damaligen Kaiserlichen Universitäts- und Landesbibliothek Straßburg und heutigen Bibliothèque Nationale et Universitaire in Strasbourg eine länderübergreifend bedeutsame Sammlung geschaffen. Die Liste der Institutionen, die in den folgenden Jahren Bücher spendeten, ist zu lang, um sie hier aus dem Provenienzregister zu zitieren, zwischen Andernach und Würzburg stehen Berlin, Leipzig, München oder Celle, Olmütz und Tübingen.
Vielleicht waren die geschenkten Bände nicht durchweg in bestem
Zustand, so daß heute bisweilen Defekte oder Schäden notiert werden
müssen, ein Großteil jedoch scheint in alten Einbänden erhalten zu
sein. Mme Zehnacker hat leider darauf verzichtet, diese Bände zu
bestimmen, stattdessen bildet sie auf Tafel XLVII - LXV Ganzphotos,
keine Stempeldurchreibungen, ab. Dies ist unterschiedlich instruktiv,
ihr Entschluß aber ist verständlich, denn in regionalen Katalogen
erwartet man eigentlich keine Einbandbestimmungen; vielmehr hätte man
sie in die unterschiedlichsten Territorien einarbeiten müssen. So sind
jene Fachleute gefragt, die sich seit langem mit den Dominikanern in
Wimpfen[2] oder Johannes Protzer und Nördlingen befassen. Bei
Ergänzungen zu Schwenke/Schunke, ob aus westfälischem (Liesborn),
sächsischem (Altzelle) oder schlesischem (Glogau) Blickwinkel, sind
die Straßburger Bestände zu berücksichtigen, was umso nützlicher sein
dürfte, als sich Mme Zehnacker offensichtlich auf Provenienzeinträge
stützen kann. Wenn für die Bände deutschen Ursprungs deutsche
Spezialisten gefragt sind, so sind die französischen Kollegen für ihr
Territorium in der Pflicht, und es wäre zu wünschen, daß sie auch die
größeren deutschen Bestandsgruppen (Göttingen, München) erschließen.
Françoise Zehnacker ist eine erfahrene Inkunabelbibliothekarin, und
die Catalogues régionaux haben einen hohen Standard erreicht, so daß
der gewichtige Doppelband gediegen wirkt. In der Einleitung behandelt
sie die beteiligten Institutionen - und muß viel über Kriegsverluste
sprechen. Es folgt eine Liste Éditions rares, die im Satz des
Katalogtextes die späteren Eintragungen vorwegnimmt. Freilich führt
sie nur die besitzenden Bibliotheken auf, nicht eventuelle
bibliographische Nachweise, so daß man immer in den Hauptkatalog
blättern muß, um den Bekanntheitsgrad abzuschätzen. Das stört. Viele
dieser Rarissima erscheinen willkommenermaßen auf den Abbildungen. Nr.
2077 ist in Erfurt gedruckt, es handelt sich nicht um die Olmützer
Ausgabe. Die eigentliche Titelliste führt die 2455 Ausgaben (in 3237
Exemplaren) in fortlaufender Nummernfolge (1 - 2443) auf, nicht in der
Nachfolge Goffs mit Buchstaben und Zahl.
Erschlossen werden Bibliotheken aus Haguenau, Saverne, Sélestat,
Strasbourg und vom Mont Sainte-Odile. Und da erhält unsere anfängliche
Euphorie einen Dämpfer, denn das Région Alsace auf dem Titelblatt ist
nur mit seinem Zusatz Bas-Rhin zu verstehen. Das Département Haut-Rhin
mit dem bibliothekarischen Hauptort Colmar ist ausgeklammert. Bei
einbandkundlichen Nachfolgestudien sollte die Region im Ganzen, nicht
entsprechend heutiger Administration getrennt, behandelt werden.
Der eigentliche Katalogtext ist reich an Information und
benutzerfreundlich: sogar die Verweisungen sind mit Signaturen
versehen. Vielfach wurden Varianten beobachtet, und die
Beglaubigungsvermerke der zahlreichen Urkunden (Einblattdrucke) werden
aufgeführt. Bei der Verfasserzuweisung hat sich die Autorin bemüht,
neuere Forschungen einzubeziehen, wobei sie sich aus gutem Grund an
die Verfassernamen der alten Drucke hält, überholte Zuweisungen aber
mit einem "Pseudo"-Vermerk versieht. Aegidius Suchtelensis gilt seit
langem nicht mehr als Verfasser der Elegantiarum XX praecepta.
Neben der Titelliste mag man den Index des provenances als das zweite
Hauptverdienst des Katalogs betrachten. Ihm ist zu entnehmen, welche
Bibliotheken Straßburg nach 1870 unterstützt haben, hier finden wir
Namen wie Ludwig Tieck, Theodor von Karajan und natürlich die
elsässischen Säulenheiligen Sebastian Brant, Beatus Rhenanus und Jakob
Wimpfeling. Unter Devises (S. 952) hat Mme Zehnacker Sinnsprüche
zusammengefaßt, wie sie uns bisweilen auf Exlibris begegnen, deren
Herkunft nicht immer leicht zu entschlüsseln ist. Unter Prix d'achat
de livres ... werden Bücher mit alten Kaufpreisen sowie
Buchbinderpreise zusammengestellt.
Diese Angaben sind nützlich und erleichtern Spezialisten die
Auswertung von Bestandskatalogen. Manche Autoren widmen ihnen eigene
Register, was den Vorteil hat, daß der Leser noch schneller an sein
Material kommt. Komplizierter ist der Weg, wenn jemand einen Katalog
in einer Fremdsprache benutzt und in den Registern die verschiedenen
vorstellbaren Lemmata ausprobiert. Vielleicht wünscht er sich dann
doch einen herausgehobenen Abschnitt in den Indizes?
Überhaupt scheint es sinnvoll, Kataloge mit einem verbalen
buchhistorischen Resumé zu versehen, in dem der Autor auf den
Wissenszuwachs hinweist, den seine Arbeit (über die schiere Auflistung
von Ausgaben hinaus) gebracht hat. Mme Zehnacker hätte darin den
handschriftlichen Eintrag der Expositio hymnorum (Copinger 3211)
erwähnen müssen, der besagt, daß die Ausgabe 1476 bei Johann Koelhoff
(dem Älteren) in Köln erschienen ist (859). Vielleicht hätte sie auch
erwähnen können, daß ihr Autor Jacobus Philippus Bergomensis (1277)
für seine Geschichtsstudien offenbar auch einen Josephus besessen hat:
1344! Inkunabelkataloge sind (aus meiner Sicht) ja nicht nur
Zimelienverzeichnisse oder Orientierungshilfen für
Mittelalterforscher, sie sollen auch Daten über die Druckgeschichte
zusammentragen und unser Wissen um das literarische Leben während der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erweitern. Oder um die
Bildungsgeschichte ihrer Region.
Der Band ist eine würdige Fortsetzung der Reihe und gehört in jede
inkunabulistische Handbibliothek.
Holger Nickel
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