Eine derartige Einschätzung bedarf jedoch der Relativierung. Natürlich
konnte in der langen Inkubationsphase der abermaligen Bearbeitung der
Sonderlexik des Nationalsozialismus der sog. Forschungsstand, der
allerdings auffallend selektiv dokumentiert und wohl auch nur
entsprechend ausgewertet wurde,[2] nicht gänzlich ignoriert werden. Der
ursprünglich charakteristische Rekurs auf das (sprach)philosophische
Systemdenken des deutschen Idealismus (Goethe, W. v. Humboldt,
Fichte), der gleichsam zwanglos mit einem diffus-vagen
Totalitarismus-Konzept vereinbar schien, wäre aus heutiger
linguistischer Perspektive anachronistisch; er ist daher getilgt. Der
pointierte Personalismus, der die großen Manipulateure (Hitler,
Goebbels und in geringerem Maße: Alfred Rosenberg) im Übermaß
prägenden Einfluß auf den öffentlichen Sprachgebrauch der gesamten
Population gewinnen ließ, ist (stillschweigend) revidiert; er wird
jedenfalls nicht mehr programmatisch vorgetragen. Die Problematik der
Affinitäten bzw. Differenzen von Alltagssprache und Politischer
Sprache, wie sie ihren unreflektierten Niederschlag bereits im
Buchtitel Vokabular des Nationalsozialimus als große Zweideutigkeit
behauptet, ist hingegen abermals nicht angemessen thematisiert, so daß
immer noch die irreführende Entsprechung von hermetisch geschlossener
Einheitssprache und monolithischem ("totalem") Führerstaat suggeriert
wird. Allerdings wurde schon in den früheren Phasen der Bearbeitung
einerseits die geringe innovative, sprachschöpferische Potenz des
"Nationalsozialismus" betont und andererseits dessen Prozeßcharakter
hervorgehoben, so daß diesem als historischem Phänomen insgesamt nur
eine relative Eigenständigkeit zugesprochen werden konnte. Daß der
Nationalsozialismus sprachgeschichtlich nicht "Epoche" machte, ist
heute Gemeingut.[3]
Die Verfasserin hat ihre lexikographischen Studien stets so
verstanden, daß diese einen Beitrag zum Verständnis des
Nationalsozialismus - und insbesondere seiner politischen Ideologie
- zu geben vermögen. In gewisser Weise war den eigenen Arbeiten
lediglich der Status hilfswissenschaftlicher Bemühungen mit den
Mitteln der Sprachgeschichte zugedacht; der "Nationalsozialismus", als
Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis, kann nach ihrem Verständnis
ohnehin nur in interdisziplinärer Anstrengung angemessen erfaßt
werden. Das Erkenntnisziel war und ist demgemäß vergleichsweise
bescheiden; selbst im Bereich der deutschen Sprache der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts wird für das Segment des politischen Wortschatzes
nur der Rang einer Vorarbeit beansprucht. Die fällige
Gesamtdarstellung, die in der Tat sich nicht auf die Lexik beschränken
könnte, erscheint folgerichtig als Desiderat. Die Adressaten des
"Nachschlagebuch(s) zum Vokabular des Nationalsozialismus" werden,
indem "Germanisten, Historiker, Politologen, Journalisten und sonstige
sprachhistorisch Interessierte" als potentielle Nutznießer ausgemacht
werden, nicht ausschließlich im engeren Kreise der Linguisten gesucht.
Vorherrschend ist eine dokumentierende Intention, die zu einem
"Einblick in die Geschichte und die speziellen Verwendungsweisen von
Ausdrücken, Organisationsnamen und festen Wendungen ..., die sich dem
offiziellen Sprachgebrauch im NS-Staat zuordnen lassen" (S. V),
verhelfen soll. Zugestandenermaßen wird zu diesem Zweck eigentlich nur
eine alphabetische Wortliste geboten; um der früher an dieser
methodischen Verfahrensweise geäußerten Kritik, es handele sich dabei
um "Wörterbuchphilologie" (v. Polenz), zu begegnen, wird nunmehr
geradezu exzessiv zitiert, um solchermaßen, nämlich "durch die
Zitierung umfangreicher, möglichst sprechender Belegbeispiele", den
sprachlichen Handlungskontext mit den Mitteln eines "Textlesebuchs"
aufzuzeigen. Das führt gegenüber der Vorfassung von 1964 zu einer
Aufschwellung um das Mehrfache des alten Umfangs. Im modernisierten
Gewande, gleichsam pragmalinguistisch, soll der zuvor wiederholt
artikulierten Kritik isolierender lexikalischer Bedeutungsermittlung
begegnet werden.
Die Sprachbelege entstammen in der Regel der sog. Kampf-(Bewegungs-)
Zeit sowie der sog. Regimephase des Nationalsozialismus, also etwa dem
Zeitraum von 1920 - 1945. Die Quellenbasis, die aus verschiedenen
Textsorten besteht, ist breit und berücksichtigt auch die umfänglich
überlieferten Versuche der nationalsozialistischen Presse- und
Sprachlenkung. Die Grundgesamtheit wurde empirisch-philologisch im
Wege des Textvergleichs - u.a. über die systematische Beobachtung der
Ab- und Zugänge in den verschiedenen Auflagen gängiger Wörterbücher
(Duden!) - durch gewichtende Lektüre, also die "klassische Methode"
der Lexikographie, ermittelt. Die Stichwortauswahl setzt neben der
Belegdichte die "Zugehörigkeit des Ausdrucks zu einem terminologischen
System" voraus. Verfolgt wird das "Konzept der breiten
Belegdokumentation im Sinne einer Art Textanthologie in nuce", und
zwar ohne Vollständigkeitsanspruch. Dergleichen wäre wegen der Fülle
des Materials und - wie die Verfasserin selbstkritisch notiert - wegen
des "etwas antiquierten Ein-Personen-Unternehmens" (S. XII) auch
durchaus unrealistisch. Zudem stehen für den behandelten Zeitraum
keine maschinenlesbaren Datenbanken (Corpora) zur Verfügung, so daß
die apparativen Segnungen der Computerlinguistik nicht in Anspruch
genommen werden können. Außerdem will beachtet sein, daß "bestimmte
Fachbereiche" - die heterogene Kollektion von Wirtschaft, Militär und
Luftschutz (!) wird genannt (ebd.) - aus Gründen der Arbeitsökonomie
nur marginal behandelt werden. Man hat sich überhaupt stets zu
vergegenwärtigen, daß schwerpunktmäßig der politische Sprachgebrauch,
und zwar im engeren Sinne, dokumentiert werden soll.
Die Einträge weisen ein konstantes Schema auf, das in der Vollform an
erster Stelle in der Kopfzeile den NS-Sprachgebrauch in seiner
Bedeutung paraphrasiert, sodann historisch-etymologische
Erläuterungen, die durchaus auch einmal bis in die Antike
zurückreichen können, folgen läßt, um schließlich im Hauptteil die
NS-Verwendung des jeweiligen Ausdrucks im situativen Kontext zu
dokumentieren und ggf. Angaben zur späteren Verwendung zu machen.
An den Anfang des Buches sind imponierende Quellen- und
Literaturverzeichnisse gestellt, deren Umfang einen Eindruck von der
entsagungsvollen, jahrzehntelangen Lektürearbeit der Verfasserin
vermittelt (S. XVII - XLI); die selektive Nennung der
sprachwissenschaftlichen Fachliteratur wurde schon vermerkt.
Im Kreise der älteren philologischen und sprachkritischen Literatur
zur Lexik des Nationalsozialismus (bzw. im Nationalsozialismus) - die
klassischen Titel von Klemperer (LTI, zuerst 1946) und
Sternberger/Storz/Süskind (Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, zuerst
1945/46 und später in z.T. veränderter Form: 1957, 1967, 1986) sind
hier anzuführen - zeichneten sich die Arbeiten von Berning (nunmehr:
Schmitz-Berning) immer schon durch ihren nüchternen Szientismus aus.
Klemperers L(ingua) T(ertii) I(mperii) : Notizbuch eines Philologen,
die sich auch heute noch auf dem Buchmarkt behauptet, wird
mittlerweile weniger als wissenschaftlicher denn als "literarischer"
Text rezipiert. Die besonderen, ganz einmaligen Entstehungsbedingungen
sind zu berücksichtigen: die existenzielle Not eines extrem
marginalisierten jüdischen Wissenschaftlers, der im Akt
distanzierender Selbstvergewisserung in einer lebensbedrohenden
barbarischen Umwelt Halt sucht an den Bildungsgütern der "wahren"
deutschen Kultur. Die kulturelle Armut des NS-Regimes, sein niedriges
intellektuelles Niveau, die Gleichschaltung aller Lebensäußerungen,
die durchaus in spiegelbildlicher Entsprechung zur Metaphernsprache
des "Dritten Reiches" als Krankheit (vergiftende Infektion) gedeutet
werden, erscheinen als "Grundeigenschaft". Klemperer bemerkt selbst,
daß sein Notizbuch eigentlich kein "Lexikon" im
sprachwissenschaftlichen Sinne ist, daß seine Beobachtungen keine
wissenschaftlichen Erkenntnisse darstellen, sondern nur den Status
vorläufiger Mutmaßungen beanspruchen können. Ihn verstört zudem die
Befürchtung, daß der "Ungeist", der sich sprachlich etabliert hat, mit
dem Untergang des NS-Regimes nicht seinerseits verschwindet. Damit
begibt sich die Sprachspekulation auf den ungesicherten Boden einer
linguistisch unaufgeklärten Sprachkritik, für die das Wörterbuch des
Unmenschen ein notorisch abschreckendes Beispiel ist. Das
Belegmaterial dieses sog. Wörterbuchs (bzw. eines Auszugs aus diesem)
beschränkt sich auf einige Dutzend Signifikanten, die größtenteils von
heutigen Mitgliedern der deutschen Sprachgemeinschaft sicher kaum als
spezifisch nationalsozialistisch empfunden werden. Die hier dominante
Kritik an Spracheigentümlichkeiten der Bürokratie - der Buchtitel von
Karl Korn Die Sprache in der verwalteten Welt (1958) gehört
gleichfalls in diesen Zusammenhang - hat inzwischen Patina angesetzt
und wird heute durchweg als moralisierend und elitär denunziert. Davon
ist das Wörterbuch von Schmitz-Berning frei; das Sample ist mit über
500 Einträgen schon eher repräsentativ und vor allem: durchweg nicht
eigentlich arbiträr. Gelegentlich aber - z.B. bereits mit den ersten
beiden Lemmata (abmeiern, Abmeierung; Ackernahrung) - ist die Aufnahme
von Sondersprachenvokabular (Erbhofgesetzgebung) zumindest
verblüffend, jedenfalls nicht gerade unmittelbar einleuchtend. Trotz
der alphabetischen Anordnung des Belegmaterials, als deren Folge
Wortfelder zerstückelt werden, sind die Kernbereiche der NS-Ideologie
(Rassismus, Antisemitismus, Biologismus, Militarismus) leicht
rekonstruierbar. Damit ist die spezifische Semantik des
Nationalsozialismus auf der Basis von Selbstaussagen authentisch
wiedergegeben.
Klaus Bleeck
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