Die zwischen 1968 und 1974 erstmals und seither in mehreren
überarbeiteten Neuauflagen erschienene Encyclop‘dia universalis hat
sich längst auch in großen deutschen Bibliotheken so eingeführt, daß
zur Qualität dieses umfassenden Werkes wohl nichts mehr gesagt zu
werden braucht. Interessant sind die jetzt neu erscheinenden
speziellen Lexika aber natürlich vor allem für jene Bibliotheken - wie
auch für Privatleute, da der Preis mit FF 170.00 für ein zuverlässiges
Lexikon erfreulich niedrig ist -, die das Gesamtwerk nicht oder
allenfalls in einer älteren Ausgabe[2] zu ihren Beständen zählen, da sie
auf diese Weise ein Fachlexikon erwerben können, dessen einzelne
Artikel tatsächlich vom jeweiligen Spezialisten eines Gebietes verfaßt
wurden. So stammt etwa der Artikel Réalisme von Henri Mitterand, die
Autobiographie - natürlich - von Philippe Lejeune, und für die
Tragédie wurden gleich drei Forscher verpflichtet, um so
unterschiedlichen Ausprägungen wie der Tragödie der griechischen
Antike, der der französischen Klassik und der des 20. Jahrhunderts
gerecht werden zu können. Noch breiter gefächert ist das Spektrum beim
über 20 Seiten langen Artikel Épopée, der von neun verschiedenen
Autoren verfaßt wurde und die europäisch-abendländischen Grenzen
sprengt, um durch Abschnitte wie L'Afrique oder L'Asie intérieure dem
Anspruch eines "Lexikons der Weltliteratur" gerecht zu werden. Doch
nicht nur bei so weitreichenden Ausführungen wird der Name des
jeweiligen Autors genannt: Auch die kürzeren Einträge, etwa die
zahlreichen Erklärungen zu rhetorischen Figuren oder zu literarischen
Kleinformen wie Aphorisme und Calligramme verleugnen nicht ihre
Herkunft, sondern sind namentlich gezeichnet.
Anders als der Titel zunächst vermuten läßt, nimmt das Dictionnaire
des genres et notions littéraires nicht nur "genres et notions" im
engeren Sinne, sondern literaturwissenschaftliche Termini in einem
sehr weiten Sinne auf, so daß sich hier, wie in einem Lexikon üblich,
knappere Definitionen finden - z.B. zu Almanach und Anacoluthe, zu
Diégèse und Discours, zu Enthymème und Épigramme usw. -, aber auch,
wie in einer Enzyklopädie und wie bereits erwähnt, umfassende
Darstellungen zu literaturtheoretischen und literaturgeschichtlichen
Aspekten[3] wie Intertextualité, Hagiographie, Littérature pour la
jeunesse oder auch Rythme, Sacré usw. Berücksichtigt wurden nicht nur
das gängige literaturwissenschaftliche Vokabular, Gattungen,
Strömungen, rhetorische Figuren, Formen und dergleichen, sondern auch
Bereiche wie die Geschichte der Verbreitungs- und Rezeptionsweisen der
Literatur (vgl. z.B. die Artikel zu den Pratiques de lecture, zu
Revues littéraires oder zur Tradition orale). Daneben nehmen die
Portraits von Theoretikern unterschiedlichster Ausrichtung einen sehr
großen Raum ein, wobei der Schwerpunkt in diesem Fall auf dem 19. und
vor allem dem 20. Jahrhundert liegt und die Auswahl keineswegs auf
Frankreich beschränkt bleibt: So sind De Sanctis, Fontanier und
Schlegel, Auerbach, Benjamin und Curtius ebenso aufgenommen wie
Barthes und Blanchot, Derrida und Starobinski oder Eco und Jauss
(letzterer übrigens bereits mit seinem Todesjahr, das mit dem
Erscheinungsjahr des Bandes zusammenfällt). Dieser Auswahl
entsprechend wurden auch in den Sachartikeln Grenzgebiete wie etwa die
Beziehung zwischen Literatur und Philosophie oder Begriffe aus
Linguistik und Semiologie mit berücksichtigt und so die "genres et
notions littéraires" einmal mehr in einem umfassenden Sinne
verstanden.
Die - bei längeren Einträgen häufig thematisch oder chronologisch
untergliederten - Literaturangaben am Ende der einzelnen Artikel[4] sind
größtenteils recht aktuell und berücksichtigen Titel bis zum Ende der
achtziger, zum Teil bis in die erste Hälfte der neunziger Jahre,[5]
wobei der Blick nicht auf die Literatur französischer Sprache
beschränkt bleibt, auch wenn diese zahlenmäßig den Schwerpunkt bildet,
sondern sich daneben selbständig wie unselbständig erschienene
Arbeiten vor allem in deutscher, englischer und italienischer Sprache
finden.
Ein wichtiges Instrument bei der Benutzung des Dictionnaire als
Encyclopédie stellt der ausführliche Index am Ende des Bandes dar:
Hier wird nicht nur von anderen auf die verwendete Ansetzungsform und
nicht nur von einem Stichwort auf andere, mit diesem zusammenhängende
Einträge verwiesen; auch nicht mit einem eigenen Artikel versehene
Begriffe wurden aufgenommen, unter denen jeweils die für diesen
Bereich relevanten Stichwörter aufgelistet sind. So erfährt der Leser
mittels des Registers, daß er etwa Informationen zum Thema
Psychanalyse & littérature unter anderem in den Einträgen Biographie,
Critique littéraire, Jean-Pierre Richard oder Roman familial finden
kann, und selbst der Zugang über Autoren wie Goethe und Pirandello,
Racine und Proust ist dank des Index möglich, der beispielsweise im
Falle Goethes auf die Artikel Argumentation, Classicisme, Drame
bourgeois, Drame romantique und Romantisme verweist. Dank dieses
Index, der durch die Herstellung von Zusammenhängen über den Zufall
des Alphabets hinaus dem Dictionnaire des genres et notions
littéraires seinen wahrhaft enzyklopädischen Charakter verschafft,
dank der oft enzyklopädisch-ausführlichen Darstellungsweise und dank
der fundierten Artikel, die, laut Introduction, jeweils von "le
spécialiste le plus autorisé" (S. 8) verfaßt wurden, schließt dieser
Band gewiß eine Lücke in der Landschaft der literaturwissenschaflichen
Lexika und ist trotz seines französischen Übergewichts an manchen
Stellen auch nicht romanistisch ausgerichteten Bibliotheken wärmstens
zu empfehlen.
Barbara Kuhn
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