In Epochen des Umbruchs, in Zeiten der Unsicherheit, in denen sich
Werte verändern, Weltbilder zusammenbrechen und neue Weltbilder
errichtet werden, erlebt die eher düstere Seite der Phantastik zumeist
eine besondere Blüte. Wenn der Mensch mit dem Wechsel seiner äußeren
Welt nicht zurechtkommt, flüchtet er sich zunächst in die innere Welt
der Phantasie. Das mag auch mit Artikulationsproblemen zusammenhängen:
da er sich nicht recht auszudrücken getraut, daß er all das Neue in
der Welt nur schwer begreift (oftmals auch nicht akzeptiert) und den
Zusammenbruch der alten Welt nicht wahrhaben will. Deshalb beschreibt
er seine Probleme innerhalb einer ganz anderen Welt, transponiert er
reale Konflikte in ein phantastisches Ambiente, in der die Gesetze der
Alten Welt und der Neuen Welt auf seltsame Weise aufgemischt sind.
Diese Vermischung von Realität und Phantastik ist keine echte
Weltflucht, sondern lediglich Verarbeitungsmethodik: in einer
phantastischen Erzählung sind die realen Probleme reduziert auf
einzelne Aspekte: so können sie klarer herausgearbeitet werden, ihre
Singularität macht sie begreifbarer - und über den Umweg einer
Anderswelt wird die Realwelt schließlich doch verstanden.[1]
So nimmt es wenig Wunder, daß ein Nachschlagewerk zu dem Bereich der
literarischen Phantastik erwartungsvoll aufgenommen wird, zumal, wenn
es sich um eine Neuauflage eines ursprünglich in der renommierten
Phantastischen Bibliothek des Suhrkamp-Verlages erschienen Werkes
handelt.[2]
Auf 411 Seiten gibt Zondergeld nach einer dürftigen Einleitung in
einem umfangreichen Personen- sowie einem kurz geratenen Sachteil (wie
bereits in der 1. Aufl.) die Möglichkeit, sich über das Phantastische
im Schaffen eines Autors zu orientieren. Den seitlich ausgeworfenen
Autorennamen sind Geburts- und Sterbeort und -jahr zugeordnet, einer
allgemeinen, kurz gehaltenen, oft mit nicht unmittelbar
nachzuvollziehender Wertung versehenen Darstellung ("literarisch
begabte Kaufmannstochter" - soviel zur Biographie von Ann Radcliffe -,
"wenig bedeutend", "der berühmte...", "der verkannte", "der wenig
heroische Autor", "bedeutendster Autor seiner Zeit" etc. pp.) folgt
ein ebenso knapper Abriß der Hauptwerke, kürzeste bibliographische
Angaben sowie bibliographische Kürzestangaben (Titel, Jahr des letzten
ermittelten Neudrucks) zu Übersetzungen.
Einträge der ersten Auflage von 1983 sind in der Regel unverändert
übernommen, was besonders bei Blüten wie "Der englische Autor mit dem
exotischen Namen" (zu Achmed Abdullah; Sohn des Grand Duke von Yalta,
Cousin der Prinzessin Nurmahal und Zar Nikolaus II von Rußland) übel
aufstößt. H. C. Artmann wird dazu degradiert, daß ihm Lovecraft
'vertraut' ist - er übersetzte eine Anzahl der besten Stories dieses
Großmeisters der Horror-Literatur - und seine Biographie kennzeichnet
wohl eher, daß er Schuhmachersohn und Sprachenautodidakt ist,
Gelegenheitsarbeiter war und Mitglied der Akademie der Künste Berlin
ist, denn als 'Bohemien und Weltreisender' beschrieben zu sein. Daß er
Autor "höchst artifizieller Gebilde mit häufig parodistischem
Charakter, die in ihrer Art einzigartig sind," sei, wird dann weiter
theoretisiert, ohne etwa als Beispiel die Erzählung Frankenstein in
Sussex kurz anzuführen, in der das legendäre Monster immerzu mit der
kleinen Alice aus dem Wunderland kopulieren will.
Das worthülsenreiche Geschehen im Personen(= Haupt)teil setzt sich in
einem kurzen Sachteil fort. Hier erfährt man die in der Einleitung
nicht gegebene Erläuterung zum Wesentlichen der phantastischen
Literatur im Unterschied zu Krimi, Fantasy und Science Fiction. So ist
"phantastische Literatur grundsätzlich subversiv, [...] die SF
affirmativ"; Science-Fiction ist demnach erkennbar an
'schablonenhafter Anwendung von Denk- und Sprachmustern' sowie
'konservativen, ja reaktionären Tendenzen'. Vergleichbar bestechend in
ihrer nicht näher definierten Wertung ist die Beschreibung von
'Fantasy' - Texten als 'reaktionär, häufig sogar eindeutig
faschistoid'. Weshalb den Leser die Zondergeld'sche Kritik an den
Schriften des 'Vaters der Fantasy-Literatur' T. H. White nicht
verwundert, bei dem "die manchmal realistischen Erklärungen [...]
häufig die Möglichkeiten des Übernatürlichen [übersteigen]." Wie der
mit einem außergewöhnlich langen Artikel bedachte, im Zondergeld'schen
Sinne 'phantastische' Autor Russel Mac-Cloud (Pseudonym), Verfasser
eines 'Kultbuches der rechten Szene', ('ein außergewöhnlich gelungener
Roman') dieser Kritik erhaben bleibt, bleibt unklar.
In Epochen des Umbruchs, in Zeiten der Unsicherheit, in denen sich
Werte verändern, Weltbilder zusammenbrechen und neue Weltbilder
errichtet werden, erlebt die eher düstere Seite der Phantastik jedoch
wie gesagt zumeist eine besondere Blüte. Zondergelds Verdienst ist es,
den Autor dieser Zeilen auf diesen Umstand mit einer besonderen Blüte
aufmerksam gemacht zu haben. Nun will der Rezensent seine Blüte
vergessen, wird sie in den Regalen 'seiner' Bibliothek nicht
wiedersehen.[3]
Rudolf Nink
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