Allzuoft drängt sich aber der Eindruck des Zufälligen auf: Die Beiträge zu Gelegenheitsdichtung (falsch eingeordnet nach Geoffroy Saint-Hilaire) und Idylle wären besser in den werkbezogenen Bänden aufgehoben. Das ganze Lemma Subjekt/Objekt hätte sich mit ein paar Sätzen dem Artikel Erkenntnis integrieren lassen. Die Bildende Kunst begegnet unter zahlreichen Einträgen, aber - man reibt sich die Augen! - das Theater kommt nicht vor. Hier im vierten Band, wo sie am nötigsten gewesen wäre, ist von der ordnenden Hand der Redaktion am wenigsten zu spüren, weder bei der Abstimmung des begrifflichen Thesaurus noch bei der bibliographischen Kontrolle (Albrecht Schönes bekannte Studien Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult etwa werden nonchalant nach der Ausgabe von 1982 statt nach der 3. Aufl. von 1993 zitiert), schon gar nicht bei der Verteilung des Stoffes und bei den Registern. Wenn Carl August, irritiert durch die Politik Kaiser Josephs II. nach dem Erlöschen der bayrischen Linie der Wittelsbacher gegen Goethes Rat sich auf das Gewirr der Fürstenintrigen einläßt und rastlos zu Franz von Dessau oder Karl Friedrich von Baden reist, sich bald nach Berlin oder Mainz begibt, dann ist bald der eine, bald der andere Gesprächspartner bzw. Ort indexwürdig. Mailand wird registriert, wo Goethes Besichtigung des "Abendmahls" von Leonardo erwähnt wird, aber nicht, wo - wesentlich ausführlicher - über die von ihm unterstützten Bemühungen seines Herzogs um einen politisch-kulturellen Austausch zwischen der lombardischen Stadt und Weimar sowie über die Kontakte des Dichters zu der Mailänder Tageszeitung L'Eco berichtet wird.
Wirkungsgeschichte, meist eingeschränkt auf die frühe Goethe-Rezeption, findet man verstreut unter den Artikeln zu Literaturbeziehungen und Übersetzung. Ein Beispiel für die fehlende Konturierung: Hugo von Hofmannsthals anlaßbedingte Äußerungen zu Goethe werden verschiedentlich erwähnt, nichts aber liest man über die bewußt gesuchte Goethe-Nähe des österreichischen Dichters, mag sie sich nun in hunderten von versteckten Zitatanspielungen oder gar in Imitationen - etwa der Kurzverse aus dem Faust am Ende der Operndichtung Die Frau ohne Schatten - manifestieren.
Manches kommt mehrfach vor und bleibt trotzdem unvollständig: Goethe
als Jurist - wie malgré lui auch immer er das gewesen sein mag - wird
dem Leser in den zwei Artikeln Juristische Tätigkeit und Studium von
verschiedenen Verfassern unter durchaus wichtigen Aspekten
vorgestellt. In beiden Texten aber findet sich kein Hinweis auf die
subtile Korrespondenz, die Goethes Anschauungen zum Recht,
insbesondere zu dessen Wandel, mit seinen Vorstellungen über
Veränderungen in der Natur verbindet. Vor Jahrzehnten schon hatte der
Rechtsphilosoph und Strafrechtler Gustav Radbruch darauf aufmerksam
gemacht.[3]
Auch bei der Erschließung wichtiger biographischer Bezüge versagt das
Werk zuweilen. Natürlich gibt es - um die Beispiele nur aus einem
Bereich zu nehmen - Einträge zu Lili Schönemann, Ulrike von Levetzow
usw. Aber warum wird die Leipziger Jugendliebe Anna Katharina
("Käthchen") Schönkopf , deren Spuren in der dem Autodafé von 1768
entgangenen Gedichtsammlung Annette oder in dem Stück Die Laune des
Verliebten allenthalben zu finden sind, mit einer Asylstelle im
Artikel Sexualität abgespeist? Erfreulich, daß mit Gero von Wilperts
Goethe-Lexikon (s.u. IFB 98-3/4-243) fast zeitgleich ein gerade
entgegengesetzt konzipiertes Nachschlagewerk herausgekommen ist, das
zur Recherche nach Details vorzüglich taugt.
Ans Ridiküle streift die Art, wie die Beziehung zu Charlotte von Stein
dargestellt wird. Da wartet der kurze Artikel Liebe mit der
Trivialität auf, "gerade an Charlotte von Stein ... wird man bei
diesem Thema zuallererst und zurecht denken". Im biographischen
Eintrag wird das traditionelle Bedürfnis nach Hagiographie bedient,
denn dort reagiert die Geliebte auf Goethes "ungestüme Liebe" mit
"kühler Selbstdisziplin und Tugendhaftigkeit" und läßt beide "in enger
seelischer und geistiger Gemeinschaft" leben. Unter dem Stichwort
Sexualität wird der Voyeur mit der Mitteilung versorgt, daß die
"Aufnahme körperlich-sexueller Beziehungen" im März 1781 erfolgt sein
dürfte. Ein bißchen viel Pluralismus in ein und demselben Band! Dafür
fehlt ein Artikel "Erotik" von kommensurabel gebündelter Perspektivik.
In das Spannungsverhältnis zwischen Erkenntnis und Ethik hätte das
launische Spiel des Alphabets die "Erotik" zu stehen gebracht: nur
eine der Chancen, die bei der Metamorphose des Handbuchs von der
lexikalischen Atomisierung zu enzyklopädischen Sinnbezügen
leichtfertig vertan worden sind.
Hans-Albrecht Koch
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