25 Jahre nach der Erstveröffentlichung wurden nicht nur die letzten Kapitel völlig neu geschrieben, sondern auch die übrigen Kapitel komplett überarbeitet und bibliographische Quellen neueren Datums unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Publikationen ergänzt.
In der Tradition italienischer Literaturgeschichtsschreibung steht
auch der vorliegende Band als solides Hilfsbuch für das
literaturwissenschaftliche Studium. Angesichts der geringen Bedeutung,
die in Italien bis zum heutigen Tage die Lusitanistik, deutlicher noch
die Brasilianistik besitzt (abgesehen von den Vermittlungsbemühungen
von A. Tabucchi), muß jedoch die Frage nach der eigentlichen
Zielgruppe der Literaturgeschichte gestellt werden. Obwohl das
Nachschlagewerk wissenschaftlichen Kriterien gehorcht, ist es auch für
eine allgemein an der brasilianischen Literatur interessierte
Leserschaft geeignet, von der nicht vorausgesetzt wird, daß sie
tiefergehende Kenntnisse der portugiesischen Sprache besitzt. (Die
Werktitel und Zitate werden zweisprachig, also auch in italienischer
Übertragung, angegeben.) Wie U. Serani, der den bibliographischen
Anhang der Literaturgeschichte zusammenstellte, in seiner Rezension
betonte: "Pulito nello stile, ricerato nel vocabolario, ossessivamente
corretto nella citazione, questo manuale diventa ben presto
semplicemente un libro che si legge per il gusto della
letteratura...".[3] Es bleibt zu hoffen, daß das vorliegende Werk für
die Rezeption brasilianischer Literatur in Italien befruchtend
wirkt.[4]
Periodisierung und inhaltliche Gewichtung
Da die Literaturgeschichte der Feder einer einzigen Wissenschaftlerin
entstammt, ist hier eine ausgewogene Gewichtung einzelner Strömungen,
Autoren und Epochen eher zu erwarten als in den heute so beliebten
Sammlungen von Einzelstudien zahlreicher Verfasser mit
unterschiedlichem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. In der
Auswahl der bibliographischen Quellen zu einem Thema sucht die Autorin
durchaus der Komplexität unterschiedlicher Forschungsansätze Rechnung
zu tragen, dennoch ist eine formale und inhaltliche Stringenz des
Textes gewährleistet.
In einem Eingangskapitel stellt Stegagno Picchio Brasilien als
Gegenstand und Subjekt von literarischen Gattungen und poetischen
Strukturen vor. Unter thematischen Gesichtspunkten erläutert sie
charakteristische Literaturzyklen (L'indio, il negro, la cana da
zucchero, la seca, il sertĈo, l'Amazzonia, la letteratura di cordel,
la letteratura della città), das Kapitel La questione della lingua
entspricht der italienischen Sichtweise. Im Anschluß daran folgt die
traditionelle Kapitelgliederung nach Epochen, beginnend mit der
Kolonialzeit. Der Kulturtransfer wurde in Brasilien durch die Jesuiten
geleistet, die wichtigsten Vertreter Nóbrega und Anchieta werden
gewürdigt. Der typisch brasilianischen Gattung der kolonialen
Sachbücher über Brasilien mit ökonomischen Beschreibungen wird
ebenfalls Rechnung getragen.
Das Schwergewicht legt die Autorin eindeutig auf die Behandlung des
19. Jahrhunderts (S. 142 - 350). Literarische Strömungen Ende des 19.
/ Anfang des 20. Jahrhunderts versucht sie durch den aus dem
Italienischen entlehnten Crep£sculo-Begriff zu charakterisieren (La
poesia dal Parnaso al Crepusculo, S. 249 ff., La prosa dal Parnaso al
Crepusculo, S. 371 ff.), der insofern fragwürdig erscheint, als er in
der brasilianischen Literaturgeschichtsschreibung nicht üblich ist.
Das Kapitel über den Modernismo folgt der klassischen Einteilung (Gli
anni dell'avanguardia (1922 - 30); 1930-45. Stabilizzazione della
coscienza creatrice nazionale).
Neu in der Darstellung des 20. Jahrhunderts ist der Verzicht auf eine
zeitliche Zäsur für die Phase der Militärherrschaft 1964 - 1984[5]
zugunsten einer durchgängigen Darstellung: 1964-96: Dagli anni del
golpe alla fine del secolo bis zur Gegenwart. Begrüßen muß man das
Kapitel über die Musica erudita e musica popolare, da die Texte
brasilianischer Chansonsänger zur Lyrik zu zählen sind. Das Theater
(Un teatro di esportazione per il Brasile: 1943-96) wurde als
Sondergattung zusammengefaßt und erhielt insgesamt (S. 644 - 653)
gegenüber den Prosa- und Lyrikabschnitten zu wenig Raum. Die
bekanntesten Theaterautoren Nélson Rodrigues und Jorge Andrade werden
zwar herausgestellt, Produktionen anderer Autoren früherer Jahre
jedoch nicht erwähnt. Unterhaltungsliteratur (z.B. Paulo Coelho) wurde
aufgenommen, man vermißt jedoch ein Kapitel über die brasilianische
Telenovela. Der Tatsache, daß die brasilianische eine der
frauenreichsten Literaturen ist, wurde neben der Einzelwürdigung der
Prosaschriftstellerin Clarice Lispector in den Kapiteln Poeti donne
(S. 623) und Le scrittrice (S. 607) Rechnung getragen.
Bibliographische Hinweise und Register
Der Text und die bibliographischen Quellen sind gut erschlossen. Der
von U. Serani besorgte Index der Autoren und historischen Personen (S.
725 - 751) kennzeichnet Hauptfundstellen durch Fettdruck, Hinweise auf
die Bibliographie durch Kursivdruck. Die Namensansetzungen folgen
selbstverständlich den portugiesisch/brasilianischen Konventionen,
Verweisungen erfolgen nur bei Pseudonymen, in einigen Fällen auch vom
ersten Namen auf den ordnenden zweiten Namen, wie im Falle von Machado
de Assis (1839 - 1908): Assis, Machado de, nicht aber, wie in
angloamerikanischen Publikationen häufig üblich, bei Autoren wie
GuimarĈes Rosa. Ein Glossar brasilianischer Begriffe (S. 715 - 721)
dient der Erläuterung für nicht Portugiesischkundige. Der
bibliographische Anhang (S. 678 ff.) gliedert sich in Bibliografia
generale (S. 678 - 697), Bibliografía sommaria in lingua italiana (S.
699 - 704) und Traduzioni italiane di opere letterarie (S. 705 - 712).
Eine kommentierende Würdigung der nur mit Titel und Erscheinungsjahren
in der Bibliografia generale (S. 692 - 697) aufgeführten literarischen
Zeitschriften wäre wünschenswert gewesen. Eine relativ ausführliche
(ca. 10seitige) Bibliographie im Anschluß an jedes Kapitel liefert
neben Angaben zu den Lebensdaten des Autors eine Werkbibliographie und
Sekundärliteratur. Kleine Fehler lassen sich kaum vermeiden: das
Geburtsdatum von Patrícia Melo (1963), bekannt durch den Roman O
matador, wird im Text (S. 610) korrekt wiedergegeben, in der
Bibliographie (S. 639) taucht jedoch eine falsche Angabe (1955) auf.
Lücken im Kanon jüngerer Autoren sind im allgemeinen vertretbar,
vielleicht hätte JoĈo Silvério Travisan (geboren 1944), der seit 1976
als Romanautor veröffentlicht (zuletzt Ana em Veneza, 1994) und mit
dem Preis der Kritikervereinigung von SĈo Paulo und dem Jabuti-Preis
ausgezeichnet wurde, namentlich erwähnt werden können.
Regine Schmolling
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