Die Verlagsplanung macht einen guten Eindruck, denn 1997/98 sind bereits drei der Bände zur russischen Literatur und der dem 20. Jahrhundert gewidmete zur Auslandsliteratur erschienen. Der russische Bereich wird 1998 abgeschlossen sein. Jeder Band hat seinen im jeweiligen Gebiet ausgewiesenen Herausgeber. Die Zahl der Mitarbeiter ist relativ gering (bisher bei den russischen Bänden 13, 17, 23), wobei es sich weitgehend aus der Materie ergibt, daß die Artikel über die Personen der Werke eines Autors meist von demselben Wissenschaftler geschrieben wurden. Die Enzyklopädie richtet sich nicht nur an wissenschaftlich Arbeitende, sondern auch an Laien. Das dürfte nichtrussische Benutzer zwar kaum betreffen, aber es bestimmt den Stil der Darstellung, er ist auch keiner philologischen Schule verpflichtet. Je nach dem Verfasser sind die Artikel reich an philologisch aussagereichen Fakten oder eher essayistisch.
Die alphabetisch nach Autoren gegliederten Bände sind gut aufgeschlüsselt: Ein Index der Figuren nennt auch Erwähnungen außerhalb des speziellen Artikels, dasselbe gilt für das Werkregister, ein Namenindex erfaßt vor allem Schriftsteller, ein Inhaltsverzeichnis ermöglicht die schnelle Orientierung, welche Autoren mit welchen Werken aufgenommen sind. Systematik und Plazierung der kleinen Bibliographien sind unterschiedlich. Die Kolumnentitel hätten bei umfangreich einbezogenen Schriftstellern auch das jeweilige Werk angeben sollen, bei Namenindizes ist es Zeit, daß die sowjetische Manier, westliche Namen nur kyrillisch verfremdet zu drucken, eingestellt wird (so geschehen bei der besten russischen Literatur-Zeitung Literatura). Nicht gut ist die Information über die Verfasser der einzelnen Artikel. Die Listen der Mitarbeiter beim Impressum und die pauschalen Hinweise in den Vorworten, über welche Autoren sie Artikel verfaßt haben, sind unübersichtlich und unzureichend. Der Band über die Anfangszeit der russischen Literatur verwendet wenigstens Siglen, doch bis man erkundet hat, wer den jeweiligen Artikel schrieb, sucht man lange, denn sie stehen nur unter Artikelgruppen oder fehlen ganz. Nur der von der Germanistin Nina Pavlova herausgegebene Band über die Ausländische Literatur des 20. Jahrhunderts gibt bei jedem Autor den vollen Namen der 53 Mitarbeiter an. Das Verfahren der das Kollektiv betonenden Pauschalnennung erinnert an die Sowjetzeit, doch auch damals war in der Kratkaja literaturnaja enciklopdija[2] jeder Artikel gezeichnet. Allerdings wurde, wenn ein Verfasser zwischen Ablieferung und Drucklegung in Ungnade fiel, ein anderer Name eingesetzt. Hier sei ein Fall angeführt, in dem der amtierende Chefredakteur V. V. Zdanov 1975 den Namen zur versteckten systemkritischen Information genutzt hat. Unter dem Artikel über den als Agent aktiven Literaturwissenschaftler El'sberg steht: G. P. Utkin. So heißt niemand. Doch Russen verstanden die mutigen Anspielungen: GPU = Staatssicherheitsdienst, Utka = Ente, Gerücht, sensationelle Fehlinformation). Glücklicherweise kann die neue Enzyklopädie auf solche "Bereicherungen" verzichten.
Am Band über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen die wesentlichen Merkmale der Enzyklopädie verdeutlicht werden. Der Herausgeber, Evgenij Aleksandrovic Sklovskij, geb. 1954, ist Prosaiker, Literaturwissenschaftler und Journalist, er übernahm die Artikel über die Figuren in Werken von Cechov, Cernysevskij und Dostoevskij. Als Mitarbeiter wurden oft durch Monographien über die jeweiligen Autoren ausgewiesene Wissenschaftler gewonnen: A. M. Turkov für Saltykov-Scedrin, V. M. Markovic für Turgenev, A. I. Zuravl‰va für Nikolaj Ostrovskij. Insgesamt werden 2500 Figuren aus etwa 575 Romanen, Erzählungen und Dramen von 48 Schriftstellern vorgestellt. Die Zahl der Schriftsteller zeigt, daß man auch weniger bekannte einbezogen hat. Der Bedeutung entspricht die Zahl der jeweiligen Werke: 25 bei Dostoevskij, 15 bei Turgenev, eines bei Ivan Nikitin. Der Umfang der Figurenartikel schwankt überproportional. Dem autobiographischen Levin von Lev Tolstoj in Anna Karenina sind 6 Spalten (5 Schreibmaschinenseiten) gewidmet, Valerija Parfent'evna, einer Altgläubigen in Saltykov-Scedrins Theaterstück Pasuchins Tod fünf Zeilen und Dostoevskijs Al‰sa Karamazov zweieinhalb Spalten. Als mich die Qualität der Artikel über den in der Sowjetzeit erheblich verfälschten Aleksej Konstantinovic Tolstoj in historischer und nun möglicher auch religiöser Sicht erfreute, mußte ich mich in Moskau erkundigen, wer der Autor ist: Sergej F‰dorovic Dmitrenko. Bei 29 Autoren hätte sein Name stehen müssen.
Die einzelnen Artikel nennen zum Schriftsteller selbst außer der Auflösung eines ev. Pseudonyms nur die Lebensjahre und bei den wenig bekannten die wichtigsten Werke in zwei bis drei Zeilen. Von jeder Figur werden einleitend Alter und Beruf angegeben, wird - möglichst als Zitat - das Äußere beschrieben. In manchem Artikel finden sich Hinweise auf Quellen nicht nur bei autobiographisch geprägten Figuren oder bei Schlüsselfiguren. Überwiegend ist es gut gelungen, je nach dem Inhalt die Stellung in einer Familie oder zu anderen Personen, die Entwicklung der Figur und die Funktion in der Handlung auszuführen. Dasselbe gilt für die direkte Charakteristik der Figuren, während Bezüge zu weiteren Werken desselben oder anderer Schriftsteller verständlicherweise selten sind.
Für die beiden anderen, der russischen Literatur gewidmeten Bände gilt
weitgehend das Gleiche. Die Herausgeber sind bekannte Gelehrte:
Aleksandr Nikolaevic Archangel'skij (1961), der an der Moskauer
Pädagogischen Universität lehrt, ist Spezialist für die Zeit seines
Bandes, die Puschkinzeit, machte sich einen Namen auch durch ein Buch
über die Perestrojka.[3] Ekaterina Borisovna Rogacevskaja (1966) ist im
Akademieinstitut für Weltliteratur tätig und durch eine Chrestomatie
der altrussischen Literatur (Moskva, 1993; 2. Aufl. 1996) bestens für
ihren Band ausgewiesen. Der Band über das 17., 18. und die erste
Hälfte des 19. Jahrhunderts erfaßt 51 Autoren und 59 Werke anonymer
Autoren, der Band über die altrussische Literatur eine große Auswahl
aus Heiligenlegenden, Bylinen, Märchen, historischen Liedern,
Apokryphen u.a. Da manche Figuren in verschiedenen Werken der Folklore
auftreten, ist der Ansatz des Lexikons hier besonders fruchtbar.
Grundsätzlich ist der spezifische Blick auf die Figuren und ihre
Funktion in der Handlung von großem Vorteil. Für die Gesamtvorstellung
von einem Werk ist die parallele Nutzung anderer Lexika erforderlich.
Umgekehrt erweitert es das Bild meist wesentlich, wenn man die
Informationen aus biographischen und Werklexika durch das Nachschlagen
in dem neuen Figurenlexikon ergänzt, da hier entweder neue Forschung
oder ein eigener Blick guter Fachleute geboten wird. Die Einbeziehung
der wenig beachteten russischen Schriftsteller ist ein gesonderter
Gewinn - sie machen in Sklovskijs Band etwa 50 Prozent aus. Über sie
findet man unter deutschen Literaturgeschichten am ehesten einige
Angaben bei Arthur Luther.[4] Die guten neuen Lexika sollten in keiner
Universitätsbibliothek und in keinem Institut fehlen.
Neben dieser Enzyklopädie verdient die Reihe Skola klassiki Beachtung,
die repräsentative Texte mit Kommentaren und Sekundärliteratur zu
annähernd gleichen Teilen verbindet. Die Editionen sind dem Programm
der Höheren Schulen Rußlands angepaßt. Die erschienenen 40 Bände (z.B.
Puskin, Gogol', Bunin, Bulgakov, Zamjatin, Zoscenko, Platonov) wären
dank ihrer wissenschaftlichen, ideologiefreien Informationen auch für
Lehre und Forschung an unseren Universitäten geeignet.[5]
Wolfgang Kasack
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