Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als "Enzyklopädie" und verbindet mit diesem Ausdruck die Intention, "Sachlexikon und Handbuch, Gesamtdarstellung und Kompendium" zugleich zu sein. Man wird das Selbstverständnis der Publikation so präzisieren können, daß offenkundig in übersichtlicher, benutzerfreundlicher Darbietung des Stoffes eine Bestandsaufnahme des gegebenen, aktuellen Wissens über das historische Phänomen "Nationalsozialismus" in seiner ganzen Breite angestrebt wird, und zwar für die sog. interessierte Öffentlichkeit. Damit ergibt sich eine gewisse Mittellage der Präsentation zwischen populärer und wissenschaftlicher Stoffbehandlung.
Ein flüchtiger Vergleich mit einem ähnlich facettenreich angelegten
Sammelwerk,[2] das bereits vor einigen Jahren erschien und mit seiner
Parallelausgabe als Bd. 314 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale
für Politische Bildung gleichsam offiziös geworden ist und eine
entsprechend weite Verbreitung gefunden hat, mag das Gemeinte
schlaglichtartig verdeutlichen. Hier nämlich dominiert in reichen
Fußnoten und breiter Forschungsdiskussion akademische Gelehrsamkeit in
allen Einzelbeiträgen. Eine ganze Abteilung ist zudem der
spezialisierten Forschungsdiskussion reserviert (S. 491 - 590), eine
Auswahlbibliographie (S. 593 - 605) ist beigefügt. Die Autoren der
"Essays" der Enzyklopädie des Nationalsozialismus - zum kleineren Teil
sind sie übrigens in beiden Sammelwerken zu finden, die Beiträger des
Konkurrenzunternehmens sind allerdings insgesamt "hochkarätiger"
- lassen ihren Artikeln hingegen jeweils nur unkommentierte
Literaturlisten folgen (fast ausschließlich sog. selbständige
Veröffentlichungen). Die zwar auch vorhandene, aber der resümierend
gehaltenen Grundanlage des Werkes entsprechend "lakonisch" und
"objektiv" gestimmte Forschungsdiskussion ist im ganzen doch eher
marginal und für den uneingeweihten, gleichwohl vielleicht auch
lernbegierigen Leser häufig im Nachvollzug - im Sinne einer etwa
beabsichtigten weiterführenden Lektüre - geradezu erschwert. So fehlen
schon im ersten Beitrag (Ideologie, insbes. S. 18 ff.) in der
bibliographischen Annotation (S. 21) die im Text ausdrücklich
namentlich erwähnten, aber nicht bibliographisch spezifizierten
einschlägigen Arbeiten von (z.B.) Martin Broszat und Brigitte Hamann.
Es ist dies ein Defizit, das übrigens nahezu durchgängig als Ärgernis
aufstößt. Eklatant ist dies, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen,
wenn Goldhagen mit seiner Kernthese vom "eliminatorischen
Antisemitismus" im Text (S. 63) zwar genannt wird, in der beigefügten
Literaturliste jedoch die bibliographische Angabe nicht auftaucht,
Brownings Werk hingegen, das im gleichen Kontext steht, sehr wohl
verzeichnet wird. Zweifellos sind derartige Mängel und Ungereimtheiten
vornehmlich den Lektoraten der beteiligten Verlage, bei denen
offensichtlich die Schlußredaktion lag, anzulasten.
Allerdings wird dem Anspruch, umfassend über das
nationalsozialistische Regime überblicksartig zu berichten, durchaus
genügt. Nicht nur über Politik im engeren Sinne (Innen-, Außen-,
Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik) finden sich Beiträge, sondern
auch Alltag und Lebenswelt und -wirklichkeit (z.B. Film, Unterhaltung,
Literatur, Jugend, Technik, Sport, Frauen) werden durchweg prägnant
behandelt (Fremdkörper sind für mein Empfinden die Beiträge von Thomas
Bertram und Heinz Boberach Weltkrieg 1939 - 1945 bzw. Quellen zum
Nationalsozialismus). Insgesamt muß zum Handbuch-Teil der Enzyklopädie
... freilich doch relativierend festgestellt werden - entgegen der
hochgemuten Selbsteinschätzung -, daß in dem angeführten Sammelwerk
Deutschland 1933 - 1945 bereits seit 1992 eine gewichtige
"wissenschaftliche" Konkurrenz vorliegt.
Solches trifft auch - im Hinblick auf das Sachlexikon des zweiten (und
Haupt-) Teils der Enzyklopädie ... - seit kurzem auf das von Cornelia
Schmitz-Bernings verfaßte "Nachschlagebuch zum Vokabular des
Nationalsozialismus" zu,[3] das in alphabetischer Anordnung mit etwa 500
Lemmata "Einblick in die Geschichte und die speziellen
Verwendungsweisen von Ausdrücken, Organisationsnamen und festen
Wendungen (gewährt), die sich dem offiziellen Sprachgebrauch im
NS-Staat zuordnen lassen" (Vorwort, S. V). Das Werk von
Schmitz-Berning ist freilich der Grundintention nach
sprachgeschichtlich orientiert, dokumentiert aber zugleich authentisch
die spezifische Semantik des NS. Weithin liegt damit zumindest eine
fundierte Ergänzung - in wesentlichen Partien zweifellos auch ein
gewichtiges Substitut - zur Enzyklopädie ... vor.
Problematisch ist in vielerlei Hinsicht Teil 3, das Personenregister
mit Kurzbiographien. Merkwürdig ist hier zunächst der Umstand, daß
einem gewissen Perfektionswahn gefrönt wird. Offenbar hatte man die
- im übrigen in fast unzähligen Fällen dann wieder gar nicht
eingehaltene - Absicht, jeden in Teil 1 und 2 vorkommenden Namen
zumindest mit Lebensdaten, Geburts- und Todesorten sowie
Tätigkeitsbereichen (Schriftsteller, Komponist usw.) zu annotieren. So
treten kurioserweise z.B. die Namen von Bach, Beethoven, Bismarck,
Büchner, Grabbe, Goethe usw. mit entsprechenden Zusätzen auf (auch
Friedrich Barbarossa - und weitere "Friedriche"!). Die Behandlung ist
zudem uneinheitlich und teilweise überflüssig ausführlich (im Falle
Bismarcks wird z.B. unnötigerweise auch mitgeteilt, daß er "seit 1880
preuß. Minister für Handel und Gewerbe" war). In vielen Fällen gehören
die registrierten Personen in die Kategorie "Methusalem" - sie wurden
irgendwann im späten 19. Jahrhundert geboren, ohne (bisher) je
gestorben zu sein. Bei Autoren sind die "Hauptwerk"-Zuweisungen des
öfteren (zumindest) willkürlich: Walter Benjamins Hauptwerk ist
(angeblich) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit, bei Hans Freyer nimmt diese Position die Schrift
Revolution von rechts ein. Gar nicht so ganz selten fallen die
Einträge ganz mager aus: beispielsweise Ritterbusch, Paul S. 151;
Roloff, O., S. 157. Auf S. 895 gibt es dafür eine (verschämte)
salvatorische Klausel: "Herausgeber und Verlag haben sich um
größtmögliche Vollständigkeit bemüht, konnten jedoch nicht bei allen
im Register genannten Personen die Lebensdaten ermitteln. Zusätzliche
Informationen werden für weitere Auflagen gerne berücksichtigt."[4] Der
Rezensent erlaubt sich in diesem Zusammenhang einen sachdienlichen
Hinweis auf den sog. "braunen Meyer",[5] der regimeoffiziös war und u.a.
einschlägige Angaben zu Repräsentanten und Figuranten des NS, denen
später nur bedingt noch eine entsprechende lexikalische Ehre
widerfuhr, enthält. Wer - wieder nur beispielsweise - Klaus Staeck
oder Antje Vollmer sind (vgl. S. 164), wird die Redaktion wohl selbst
ermitteln können. Im übrigen hätte man doch auch die Autoren der
Text- und Lexikonbeiträge zur Identifizierung heranziehen können. Man
hat den Verdacht, daß über "Outsourcing" zahlreiche (ungenannte) Hände
gleichsam unbeaufsichtigt und jedenfalls ohne harmonisierende
Schlußredaktion am Werke waren.
Offensichtlich konnte eine ganz ungerechte frühe Glosse zur
Enzyklopädie des Nationalsozialismus in der FAZ vom 9.10.1997, die
vielsagend Wurmstichig überschrieben war, dem verlegerischen Erfolg
der Enzyklopädie ... nicht abträglich sein. Gemeint waren hier - in
Form eines unüberlegten Schnellschusses aus Anlaß der Buchvorstellung
"im Foyer des ehemaligen Brecht-Theaters am Schiffbauerdamm"
- "ideologische" Differenzen, denen eine Publikation über den
Nationalsozialismus, zumal dann, wenn eine Vielzahl von Autoren dazu
beigetragen hat, allemal ausgesetzt zu sein pflegt. Die vom
Rezensenten benannten Unebenheiten lassen sich vergleichsweise leicht
ausbügeln; sie hätten eigentlich bei hinreichend sorgfältiger
Lektoratsarbeit gar nicht erst auftreten dürfen, schon gar nicht in
der 2. und 3. Auflage!
Klaus Bleeck
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