Zur Erinnerung sei erwähnt, daß das Ziel des Lexikons darin besteht, einen "umfassenden Überblick" (Vorwort, S. 7) über Italien zu geben, indem es "das Verständnis für ... Geschichte und Gegenwart" dieses Landes vertieft und Hintergrundinformationen zu Institutionen und Ereignissen, zu politischen und wirtschaftlichen Problemen, zu Krisen und Skandalen liefert. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei eindeutig, absichtlich und anders, als der Zusatz zum Sachtitel suggeriert, auf dem 20. Jahrhundert. Zugleich ist mit dem Italien-Lexikon nicht nur ein aktuelles Nachschlagewerk, sondern, wie der Herausgeber selbst formuliert, unweigerlich ein "historisches Dokument" entstanden, "da es gesellschaftliche und politische Zustände schildert, die sich vor allem in dem fast fünfzigjährigen Zeitabschnitt der Italienischen Republik herausgebildet haben", Italien aber "derzeit eine Epoche des Umbruchs" (S. 7) erlebt, die bewirkt, daß sich allein zwischen Redaktionsschluß und Veröffentlichung und mehr noch seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe schon wieder zahlreiche Änderungen ergeben haben.
Unmittelbar wird dies deutlich an der in den Anhang der Studienausgabe
aufgenommenen Zeittafel, die chronologisch an die des Hauptteils
anschließt, vom 9.1.1995 bis zum 23.2.1997 reicht und allein für
diesen Zeitraum fünfeinhalb Seiten mit zahlreichen Daten umfaßt. Viele
aktuelle Informationen finden sich ausschließlich an dieser Stelle,
nicht unter einem neuen Stichwort oder als Nachtrag[4] zu einem Artikel
- vermutlich, da sonst zuviele Einträge hätten überarbeitet werden
müssen und das Lexikon nicht mehr in einem Band hätte erscheinen
können. So findet sich beispielsweise weder ein Nachtrag zur Lega Nord
noch ein neuer Eintrag etwa zu Umberto Bossis legendärem Padanien; die
diesbezüglichen Ereignisse vor allem der Jahre 1995/96 sind jedoch in
der Zeittafel aufgelistet. Leider wurde allerdings, da der Hauptteil
des Lexikons offenbar unverändert abgedruckt ist, das Register nicht
aktualisiert: Es befindet sich nun nicht mehr am Ende des Bandes,
sondern vor dem knapp dreißigseitigen Anhang und hilft daher
denjenigen Lesern, die sich über besagtes Padanien informieren wollen,
ohne zu wissen, daß diese "Region" bzw. dieses "Land" auf keiner
Landkarte Italiens verzeichnet ist, nicht auf die Sprünge.
Von diesem Manko abgesehen sind die drei Register des Lexikons
erfreulich detailliert: Neben einem Personenregister finden sich je
ein ausführliches italienisches und deutsches Sachregister, so daß der
Einstieg auch dort gewährleistet ist, wo etwa der italienische
Fachbegriff nicht bekannt ist. Zudem erleichtern auch hier, nicht nur
im laufenden Text und am Ende der einzelnen Artikel, zahlreiche
Querverweisungen den Zugang zu einer systematischen Information, die
über die zwangsläufig punktuelle des Lexikonalphabets hinausgeht.
Diese alphabetische Anordnung stellt, neben der Vielzahl von
Mitarbeitern und den über 1000 gegenüber knapp 400 Seiten Umfang,
gewiß den offensichtlichsten Unterschied zum dem Band von Große und
Trautmann dar, der im übrigen zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem
Italien-Lexikon aufweist: Er wendet sich an ungefähr dieselbe weite
Zielgruppe, enthält ebenfalls von Fachleuten verfaßte Beiträge in
allgemein verständlicher Sprache und legt dabei den Schwerpunkt auf
das gegenwärtige Italien,[5] wobei historische Rückblicke bis in die
Zeit der Nationalstaatbildung, gelegentlich auch bis in die
Renaissance oder noch weiter zurück die Perspektive zeitlich erweitern
(vgl. Vorwort, S. XVIII).
Zusätzlich wird die Perspektive räumlich ausgedehnt, insofern, um die
Besonderheit Italiens deutlich werden zu lassen, häufig Vergleiche mit
anderen Ländern Europas angestellt werden. So veranschaulicht
beispielsweise eine graphische Darstellung[6] auf einen Blick die
wichtigsten Unterschiede zwischen dem italienischen und dem deutschen
Schulsystem, das im Kapitel Bildungswesen: Traditionen und
Innovationen ausführlich erklärt wird. In den sechs übrigen Kapiteln
werden das politische System Italiens, die Wirtschaft, das
Sozialsystem, die Massenmedien sowie die deutsch-italienischen
Beziehungen von der Goethezeit bis 1944 und von 1945 bis zur Gegenwart
behandelt. Stellt dieser letzte Komplex eine Erweiterung gegenüber dem
Italien-Lexikon dar, wo zwar unter einzelnen Stichwörtern (z.B.
Emigrazione, Fascismo oder Scambi culturali Italia-Germania) ebenfalls
die Beziehungen zu Deutschland eine Rolle spielen, aber nirgends ein
Überblick über die Wechselbeziehungen geleistet wird, so macht die
Aufzählung der einzelnen Kapitel zugleich deutlich, welcher Bereich
gegenüber dem Lexikon hier vor allem wegfällt: jener der
"Kulturinstitutionen" wie Akademien und Museen, Theater und Film etc.,
die dort in zahlreichen Artikeln berücksichtigt wurden, während sie in
Italien verstehen nicht oder nur am Rande aufgenommen sind.[7]
Wie im Lexikon und trotz der hier nicht alphabetischen, sondern
systematischen Anordnung der Informationen arbeitet auch der Band von
Große und Trautmann mit einem detaillierten Verweisungssystem, durch
das nicht nur von einem Aspekt ausgehend Verbindungen zu anderen
Kapiteln hergestellt werden, sondern auch sehr viel Literatur zum
jeweiligen Thema einbezogen wird. Im Unterschied zu den teilweise sehr
sporadischen oder ganz fehlenden Literaturangaben im Lexikon[8] schließt
sich hier an den Textteil zusätzlich zum Personen- und Sachregister
(das, Stichproben zufolge, weniger italienische Begriffe aufnimmt als
das Lexikon) ein etwa zwanzigseitiges Literaturverzeichnis an, auf das
die einzelnen Aufsätze häufig verweisen.[9]
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß - natürlich - die
Informationen in den beiden Bänden teils identisch, teils komplementär
sind und die Entscheidung für das eine oder das andere Werk sehr
wesentlich davon abhängt, ob ein systematischer Überblick oder die
Möglichkeit des raschen und punktuellen Zugriffs bevorzugt wird. An
vielen Stellen liefert Italien verstehen sehr gute Darstellungen von
Zusammenhängen, und es erklärt beziehungsweise sucht - auch hier
häufig im Vergleich mit Deutschland und mit anderen europäischen
Staaten - die Gründe für bestimmte Entwicklungen und für die
gegenwärtige Situation Italiens. So wird etwa dem Kapitel über Die
politischen Parteien eines über Die Entstehung und Entwicklung des
italienischen Parteiensystems vorangestellt, was das Verständnis der
gegenwärtigen Lage erleichtert und was sich der Leser im
Italien-Lexikon allenfalls unter einzelnen Stichwörtern zusammensuchen
kann. Andererseits sind stellenweise in Italien verstehen die
Informationen ausgesprochen knapp gehalten und scheinen manchmal eher
Bekanntes in Erinnerung rufen als einen ersten Einstieg ermöglichen zu
wollen. In den Geschichtlichen Grundlagen zum Beispiel wird "die
questione romana ('Römische Frage')" (S. 5) eingeführt, als sei sie
bereits zuvor dargestellt worden, während das Lexikon sowohl die
Questione romana als auch die Patti lateranensi (Lateranverträge)[10] zur
Lösung dieser Frage mit eigenen, jeweils über eine Seite langen
Artikeln bedenkt. Dennoch kann gelten, daß, da beide Bücher sehr
fundiert und informativ sind, das Italien-Lexikon nicht nur durch die
Studienausgabe eine aktuellere Version, sondern zugleich in Italien
verstehen, trotz des bedeutend geringeren Umfangs, einen
ernstzunehmenden Konkurrenten bekommen hat.
Barbara Kuhn
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