Obwohl dem Vorwort zu entnehmen ist, daß dem Verfasser die Wrangelsche Ausgabe als Leitbild für seine Enzyklopädie diente, beschränkt er sich im Gegensatz zu diesem auf die Rassen, deren Zucht in Europa ihren Ursprung hat. Die morgenländischen (hier besonders das Araberpferd), amerikanischen und australischen Rassen, die Wrangel aufführt, und die nicht nur zahlenmäßig von Bedeutung sind, bleiben leider unberücksichtigt, so daß der Titel etwas irreführend ist und korrekt "Enzyklopädie der europäischen Pferderassen" lauten müßte.
Bd. 1 beschreibt zunächst die Stammesgeschichte der Equiden, deren
Entwicklungsreihe vom Sohlengänger bis zum Zehenspitzengänger durch
fossile Funde lückenlos dokumentiert ist und die von Ernst Haeckel[2] so
treffend als das "Paradepferd der Paläontologie" bezeichnet wurde. Die
Schilderung der Entwicklungsgeschichte vom etwa windspielgroßen
Eohippus des Eozäns bis zum heutigen rezenten Equus ist genau und
gründlich und würdigt auch verschiedene evolutionäre Ansätze.
Unterstützt wird der Text durch zahlreiche Zeichnungen prähistorischer
Pferde, die in der Mehrzahl von dem bekannten Maler und Illustrator
Heinrich Harder zu Anfang des 20. Jahrhunderts angefertigt wurden und
das damalige Verständnis vom Aussehen der Pferdevorfahren
widerspiegeln. Am eindrucksvollsten ist die Skelettabbildung des
"Kleinen Messeler[3] Urpferdes", die sehr deutlich die Mehrstrahligkeit
der Gliedmaßen zeigt. Dagegen vermißt man eine schematische
Darstellung der Evolutionsreihe und der Fußbildung in der Entwicklung
der fossilen Pferde, die noch besser zum Verständnis der
Entwicklungsgeschichte hätten beitragen können.
In dem sich anschließenden Abschnitt werden die Untergattungen der
rezenten Equiden - Zebras, Esel und Echte Pferde - jeweils mit ihren
Arten und gegebenenfalls Unterarten in allen Einzelheiten sehr
detailliert und wieder reich bebildert beschrieben. Von der Bedeutung
der Zebrastreifen für die Abwehr der Tse-Tse-Fliege bis zur Erörterung
widerstreitender Theorien zur Domestikation des Pferdes spannt sich
der Bogen der behandelten Themen.
Im Hauptteil werden dann die Pferderassen aus Deutschland, Belgien,
den Niederlanden und Luxemburg, jeweils in der Reihenfolge Warmblut-,
Kaltblut- und Ponyzuchten vorgestellt, wobei das Schwergewicht dieses
Bandes auf den deutschen Rassen liegt. Eine ausführliche hippologische
Kulturgeschichte leitet das jeweilige Zuchtgebiet ein.
Jede Rasse wird im Zusammenhang ihrer geschichtlichen Entwicklung und
entsprechend ihrer heutigen Bedeutung in den Hauptpunkten Typ, Zucht
und ausführliche Rassegeschichte behandelt, wobei der Umfang der
Schilderungen einzelner Rassen schwankt. So wird dem Trakehner, einer
geschichtsträchtigen Rasse, verständlicherweise mehr Raum gewidmet als
der Lewitzer Schecke, einem erst nach dem Zweiten Weltkrieg
entstandenen Pferd.
Die akribischen Schilderungen der Rassen sind beeindruckend und machen
deutlich, daß sich auf diesem Gebiet ein ausgewiesener Fachmann mit
jahrzehntelanger intensiver praktischer und theoretischer Erfahrung
bewegt. Das Bildmaterial ist auch in diesem Teil sehr reichhaltig und
von ausgezeichneter Qualität.
Der Anhang enthält ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen der
Hippologie und ein reichhaltiges Literaturverzeichnis, das allerdings
durch seine ungewöhnliche alphabetische Ordnung überrascht und die
Lesbarkeit beeinträchtigt. Bei der Verfasserangabe steht zuerst der
abgekürzte Vorname, dann der Nachname, nach dem geordnet wird (z. B.
G. Graf Lehndorff; A. von Lengerken; J. Freiherr von Liebig). Auf die
Angabe unveröffentlichter Vorträge und Manuskripte oder von
Werbeschriften und Prospekten hätte getrost verzichtet werden können.
Laufende Jahrgänge von Zeitschriften sind nur mit Titel und Verlagsort
genannt, auf Verbandsmitteilungen und Verbandszeitschriften einzelner
Zuchtverbände wird pauschal hingewiesen.
Ein auf den ersten Blick umfangreiches Register, das im Gegensatz zum
Literaturverzeichnis korrekt alphabetisch geordnet ist, soll den
ersten Band erschließen, führt aber wichtige Begriffe zumindest aus
dem entwicklungsgeschichtlichen Teil nicht auf. So fehlen
beispielsweise die Begriffe Tertiär oder Eozän, dafür wird das
Palaeotherium zum Registereintrag Palacotherium. Ist die Erstellung
eines Registers im EDV-Zeitalter denn immer noch so schwierig?
Der zweite Band der Enzyklopädie behandelt in der bereits bei Bd. 1
erwähnten Gliederung die Rassen aus Island, Skandinavien,
Großbritannien, Irland und Frankreich, wobei jedes Zuchtgebiet auch
hier zunächst durch eine kenntnisreiche hippologische Kulturgeschichte
dargestellt wird. Wie in Bd. 1 geht dem Teil über die einzelnen Rassen
ein einleitendes Kapitel voran, das sich hier mit der Pferdezucht
beschäftigt. Die Grundlagen der Zucht, Zuchtmethoden und die
Geschichte der Zucht von der Antike bis zur Neuzeit werden in
bekannter Weise wieder ausführlich beschrieben.
Im Vordergrund dieses Bandes steht naturgemäß Großbritannien mit einer
sehr detaillierten Darstellung der Geschichte des Vollblutpferdes, dem
Rennpferd schlechthin, gefolgt von den vielfältigen Ponyrassen, der
ältesten Equidenpopulation der Britischen Inseln, die durch den hohen
Bedarf an Grubenponies für die Bergwerke fast schon vom Niedergang
bedroht waren und sich zum Teil erst in letzter Zeit wieder langsam
erholen konnten.
Ein schönes Beispiel für die Erhaltung von Haustierrassen (was aber
nicht in allen Fällen zur Nachahmung empfohlen werden soll) bietet die
Schilderung der Kaltblüter im Abschnitt Frankreich. Während die
Kaltblutzuchten, die früher von großer Bedeutung waren, dann aber
wegen völliger Mechanisierung von Landwirtschaft und Industrie immer
weniger Verwendungsmöglichkeiten fanden, in Deutschland und
Großbritannien eine eher untergeordnete Rolle spielen und zahlenmäßig
stark zurückgegangen sind, züchten die pragmatischen Franzosen (das
gilt analog auch für Zuchten der Benelux-Staaten) viele Kaltblutrassen
heute vorwiegend zur Schlachtfohlenproduktion und tragen somit
wenigstens zum Erhalt der Rassenvielfalt bei; eine Nutzung, die in
Deutschland oder Großbritannien aufgrund einer anderen Einstellung zu
diesem speziellen "edlen" Haustier undenkbar wäre.
Der Anhang enthält neben einem Glossar wieder das eigenwillig
aufgebaute Literaturverzeichnis und ein lückenhaftes Register:
Beispielsweise erhält L. Huybrechts einen Registereintrag, nicht aber
F. Bakels oder Albrecht Thaer, wobei für beide Bände noch anzumerken
ist, daß die Auflösung von Vornamen anscheinend dem Zufallsprinzip
unterliegt.[4] Eine kurze Errata-Liste berichtigt einige Textfehler des
ersten Bandes.
Beide Bände dieser repräsentativen Enzyklopädie der Pferderassen
bestechen nicht nur durch die ausführliche Erörterung der
theoretischen Grundlagen und gründliche Schilderung der Pferderassen,
sondern auch durch die gelungene typographische Gestaltung mit
ansprechendem Spaltensatz und grau unterlegten Tabellen und
Hauptstichwörtern, so daß man sich schon jetzt auch auf den dritten
Band freuen darf. In den einleitenden Kapiteln fehlen bislang
allerdings Erörterungen zur Anatomie, Physiologie und Ethologie der
Pferde ebenso wie Adressen von Verbänden im Anhang; Bereiche und
Angaben, die man in einer solchen Enzyklopädie eigentlich erwarten
sollte.
Die sicher interessierende Frage nach der Gesamtzahl der rezenten
Pferderassen wird nicht beantwortet, die Zahl der vorgestellten Rassen
kann nur durch Auszählen ermittelt werden. Sie beträgt für beide Bände
etwa 115 Rassen, während Wrangel insgesamt über 135 Rassen aufführt.
Trotz der kleinen aufgezeigten Mängel ist die Enzyklopädie der
Pferderassen, die leider nur als Pflichtfortsetzung zu beziehen ist,
ein hervorragendes Nachschlagewerk, das lange Bestand haben wird und
von Bibliotheken, die der hohe Preis nicht abschreckt, guten Gewissens
erworben werden kann.
Joachim Ringleb
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