Das Handschriftenarchiv Bernhard Bischoff, das ebenfalls in Krämers Bibliographie nicht ausgewertet werden konnte und das auch mit dem Katalog der festländischen Handschriften nur geringe Überschneidungen aufweist, macht den an die Monumenta Germaniae Historica gelangten Teilnachlaß Bischoffs in einer Mikrofiche-Edition der Öffentlichkeit zugänglich. Es enthält ca. 15.000 Aufzeichnungen zu Handschriften aus überwiegend europäischen Bibliotheken, die Bischoff während seiner zahlreichen Bibliotheksreisen seit den dreißiger Jahren angefertigt hat und die für die Publikation nach Ländern, Orten und Bibliotheken neu geordnet wurden. Ein Begleitband verzeichnet entsprechend dieser Reihenfolge die erwähnten Codices. Diejenigen Notizen jedoch, die Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek betreffen, gelangten zusammen mit seinem Hauptnachlaß an die Münchener Bibliothek, so daß sie in der Edition fehlen. Die 'Beschreibungen' reichen von - für den Benutzer nicht immer sofort erkennbaren - Teilabschriften aus den handschriftlichen Inventaren der Bibliotheken (Berlin, Staatsbibliothek u.a.) über Exzerpte aus gedruckten Katalogen (z.B. Magdeburg, Domgymnasium; Paris, Bibliothèque Nationale) bis hin zu ausführlicheren Bemerkungen und Transkriptionen aus Handschriften (vor allem zu Bänden in französischen Bibliotheken). Da aber die eigenen Beobachtungen Bischoffs vielfach nur mit Mühen unter der Masse des anderweitig Bekannten auffindbar sind, da sie zudem nicht immer, wie der Herausgeber erhellend im Begleitband vermerkt (S. 8), von gedruckten und ungedruckten Katalogexzerpten zu unterscheiden sind, stellt sich die Frage nach dem Zweck einer Publikation, die angesichts gelegentlich veralteter und unvollständiger Signaturen (ebd. S. 6) teilweise mehr Verwirrung als Erkenntnis zu stiften vermag. Es war, so wird man vermuten dürfen, eher die Verehrung für einen bedeutenden Gelehrten als die wissenschaftlichen Notwendigkeit, die den Herausgeber des nie für eine Publikation vorgesehenen Materials zu seinem Unternehmen veranlaßte.
Während bisher Bischoffs erstmals 1979 erschienene Paläographie, deren
Übersetzung in das Englische, Französische und Italienische den
außerordentlichen Rang dieses Buches innerhalb dieser Literaturgattung
bezeugt, bisher als die Krönung seiner Arbeiten galt,[4] so wird man in
Zukunft den Katalog der festländischen Handschriften des neunten
Jahrhunderts im gleichen Atemzuge nennen müssen. Dieses Unternehmen
blieb unvollendet und ist, angesichts der Masse des erhaltenen
Materials, letztlich wohl auch unvollendbar.
In der Zusammenarbeit mit E. A. Lowe an den Codices latini
antiquiores, dem Gesamtinventar der gut 1.800 Denkmäler der
lateinischen Buchschrift aus der Zeit bis 800, entwickelte Bischoff
offenbar schon in den dreißiger Jahren die Idee eines paläographischen
Kataloges aller lateinischen Handschriften des 9. Jahrhunderts mit
Ausnahme derjenigen, die auf den Britischen Inseln und in
westgotischer Schrift in Spanien entstanden sind. Der Katalog sollte
alle in Frankreich, Deutschland und Italien in karolingischer Minuskel
und in Beneventana sowie die in angelsächsischer und irischer
Tradition stehenden Handschriften dieser Länder aus dem 9. Jahrhundert
beschreiben. Die Notwendigkeit eines solchen Unterfangens resultiert
aus der immanenten Schwierigkeit des Projektes von Lowe, für die
Grenzziehung um 800 paläographische Datierungskriterien zu entwickeln.
Die Aufgabe, der Bischoff sich stellte, war gewaltig: Seine
Schätzungen über die Zahl der erhaltenen Handschriften wuchs von 4000
- 5000 im Jahre 1955 über 6500 im Jahre 1963 auf über 7000 im Jahre
1991. Ohne das von den Freunden Bischoffs bewunderte, unglaublich
präzise visuelle Gedächtnis des Autors wäre diese Aufgabe aller
photographischen Reproduktionen zum Trotz nicht erfüllbar gewesen.[5]
Angesichts der großen Zahl zu untersuchender Codices war Bischoffs
Ziel begrenzt; sein Interesse galt im wesentlichen einem, wenn auch
zentralen Aspekt der Handschriften: Ihre Datierung und Lokalisierung
sollte mit Hilfe der Paläographie so genau wie möglich bestimmt
werden, um sie einzelnen Skriptorien oder Schriftlandschaften und
Gegenden zuweisen zu können. Sein Bestreben war, wie er immer wieder
betonte, ein paläographischer Katalog der Handschriften des 9.
Jahrhunderts[6] und nicht, wie der von den Herausgebern gewählte Titel
suggeriert, ein umfassender beschreibender wissenschaftlicher Katalog
dieser Codices, der Schrift, äußere Merkmale und Geschichte, Texte und
Buchschmuck behandeln würde. Wer diese bewußte Begrenzung des
Unternehmens berücksichtigt, wird den vorgelegten Band immer wieder
mit großem Gewinn nutzen können, zumal die genauen Datierungen und
Lokalisierungen des handschriftlichen Materials das Fundament einer
Geschichte der intellektuellen und schriftlichen Kultur des 9.
Jahrhunderts bilden können.
Als Bernhard Bischoff im September 1991 starb, lag das Manuskript für
den alphabetisch nach Bibliotheksorten geordneten Katalog in drei
unterschiedlichen Bearbeitungsstufen vor: Für den ersten Teil, von
Aachen bis Lambach (ca. 2000 Handschriften), existierten bereits
Druckfahnen, die vom Autor allerdings noch nicht als definitiv
betrachtet wurden und die von ihm auch nicht mehr korrigiert werden
konnten; Einleitung, Literaturverzeichnis und Register fehlten noch.
Für den zweiten Teil, für die Bibliotheksorte von Laon bis Paris (ca.
2350 Handschriften, für Paris unvollständig), waren Beschreibungen in
handschriftlicher Form vorhanden, für den dritten, von Paris bis
Zwettl, gab es nur Notizen und Listen mit Signaturen für diejenigen
Handschriften, die in den Katalog aufgenommen werden sollten. Dieses
Material gelangte mit dem übrigen Nachlaß und der Photosammlung zu den
Handschriften in die Handschriftenabteilung der Bayerischen
Staatsbibliothek, wo es auch eingesehen werden kann.
Der vorgelegte erste Band, von Birgit Ebersperger im Auftrage der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften von der Kommission für die
Herausgabe der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands und
der Schweiz für den Druck aufbereitet, enthält den ersten Teil des
Kataloges mit den Beschreibungen der Handschriften aus den
Bibliotheksorten Aachen bis Lambach. Die Bearbeiterin hat die
erhaltenen handschriftlichen Addenda und Notizen Bischoffs zu den
alten Druckfahnen in die jetzt publizierte Version eingearbeitet,
seine hand- und maschinenschriftlichen Vorlagen mit der Druckfassung
abgeglichen, Widersprüche zwischen den verschiedenen Fassungen zu
klären versucht, die Formalia in den Abkürzungen, der Zitierweise, den
Signaturen und der Anlage der einzelnen Beschreibungen
vereinheitlicht. Abkürzungsverzeichnis, Literaturverzeichnis, Register
der Schreiborte und Schriftprovinzen sowie das Register der zitierten
Handschriften stammen von ihr. Da in letzteres nur diejenigen Codices
aufgenommen wurden, die nicht untereinander auf sich selbst verweisen,
muß regelmäßig bei der Benutzung des Katalogs immer auch dieses
Register konsultiert werden, um Parallelhandschriften zu finden.[7] Auf
ein Register der in den Codices überlieferten Texte und Werke wurde
bedauerlicherweise mit dem nicht überzeugenden Hinweis verzichtet,
Bischoff habe nicht alle Texte, sondern nur die Haupttexte aus den
einzelnen Handschriften in seine Beschreibungen aufgenommen. Es wird
dabei übersehen, daß angesichts der Fülle der analysierten
Handschriften auch Zahl und Verbreitung dieser Haupttexte signifikante
Einsichten in die literarischen Vorlieben und Tendenzen des 9.
Jahrhunderts geben könnten. Man kann nur hoffen, daß in dem oder den
späteren Bänden dieser wesentliche Mangel behoben wird. Als Einleitung
zu dem Band dient ein knappes Summarisches Programm Bernhard Bischoffs
aus den fünfziger Jahren, das längst nicht so präzis formuliert ist
wie seine veröffentlichten Texte zu diesem Unternehmen. Obwohl
Bischoffs Arbeiten für diesen Band also am weitesten vorangeschritten
waren, ist letztlich auch er unvollendet geblieben: Wichtige
Handschriften vor allem aus Bibliotheken der ehemaligen DDR, aus
Erfurt, Gotha, Halberstadt und Halle, aber auch aus Hildesheim waren
vom Autor noch für weitere Untersuchungen zurückgestellt worden.
Für die Bibliotheksorte von Lambach bis Paris liegen zwar keine
Druckfahnen, dennoch aber von Bernhard Bischoff noch ausgearbeitete
Handschriftenbeschreibungen vor, so daß trotz aller Lücken und dem
Abbrechen der Bearbeitung mitten unter den in Paris aufbewahrten
Handschriften die Edition eines zweiten Bandes als verdienstvoll
angesehen werden muß. Ein anscheinend geplanter dritter Band dagegen
(Paris-Zwettl), für den neben einigen Notizen nur Signaturenlisten und
kurze Angaben zu den Haupttexten vorliegen, dürfte von nur geringer
wissenschaftlicher Bedeutung sein.
Bischoff hat in seinen Katalog all jene festländischen lateinischen
Handschriften des 9. Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen)
aufgenommen, die in diesem Jahrhundert geschrieben, die im 9.
Jahrhundert durch Zusätze erweitert oder die in der bisherigen
Forschung fälschlich in dieses Jahrhundert datiert wurden. Die
Beschreibungen aller drei Handschriftengruppen folgen im Grundsatz
einem einheitlichen Schema, das den zentralen Aspekt des gesamten
Unternehmen, die paläographische Analyse des erhaltenen Bestandes, in
den Mittelpunkt rückt und alle weiteren Informationen aus
arbeitsökonomischen Gründen nur knapp verzeichnet. Modifikationen des
Schemas ergeben sich aus den Besonderheiten der Fragestellung in den
genannten einzelnen drei Gruppen; immer jedoch stehen die
Schriftanalyse und die daraus abgeleiteten Datierungen und
Lokalisierungen im Mittelpunkt von Bischoffs Interesse. Im einzelnen
verzeichnet er in seinen ausführlichen Beschreibungen der
Handschriften des 9. Jahrhunderts: Bibliotheksort, Signatur,
Provenienz, Autor und Titel der Haupttexte, Blattzahl, Format des
Buchblocks und des Schriftspiegels, Spalten- und Zeilenzahl;
detaillierte Beschreibung der paläographischen Besonderheiten;
Ligaturen, Abkürzungen, Dekoration, Tironische Noten, Glossen, Neumen
u.a. Auf die Literaturhinweise, sofern vorhanden, folgen als
Schlußfolgerung aus den dargestellten Elementen die Bestimmung des
Schreiborts oder der Schriftprovinz und die Datierung. In den
Beschreibungen der vor 800 entstandenen Handschriften mit Zusätzen aus
dem 9. Jahrhundert entlastet Bischoff seine Ausführungen zu den
äußeren Merkmalen durch den Hinweis auf die Katalognotizen in den
Codices latini antiquiores, in denen der fälschlich in das 9.
Jahrhundert datierten Codices verzichtet er gänzlich auf solche
Hinweise.
Der herausragende wissenschaftliche Gewinn dieser posthumen
Publikation ist darin begründet, daß ein kaum überschaubarer
Handschriftenbestand einer wichtigen Phase der europäischen
Kulturentwicklung des Mittelalters von einem der bedeutendsten Kenner
der Schrift- und Buchgeschichte des 8. und 9. Jahrhunderts nach
einheitlichen stilistischen Kriterien beurteilt, lokalisiert und
datiert wurde. Dieses Werk wird für lange Zeit eine gleichsam
kanonische Autorität genießen; abweichende Datierungsansätze für die
von Bischoff beschriebenen Handschriften werden einen außerordentlich
hohen Begründungsaufwand erfordern, um überzeugend zu sein. Dennoch
stellt sich ein gewisses Ungenügen bei der Benutzung dieses Katalogs
ein. So reich die Ausbeute im einzelnen auch immer sein mag, eine
Überprüfung der Bischoffschen Ergebnisse ist nicht möglich, und
letztlich bleiben daher auch seine Datierungs- und
Lokalisierungskriterien im dunkeln. Solange dem Werk kein
ausführlicher Tafelband beigegeben wird, werden die Zuweisungen der
Handschriften zu Schreiborten und Schreibregionen nur schwer
nachvollziehbar sein und die Einordnung von ihm nicht beschriebener
oder neu auftauchender Handschriften kaum befördern. Wenn die
Paläographie, wie Bischoff sagt, im wesentlichen doch "eine Kunst des
Sehens und der Einfühlung" ist,[8] bedarf sie um des Gebrauchswertes
ihrer Ergebnisse willen der photographischen Reproduktion, damit auch
die nicht in München ansässigen Paläographen ohne Rückgriff auf den
Nachlaß Bischoffs ihre Resultate nutzen oder genauer fassen können.
Daß Präzisierungen sehr wohl möglich und nötig sind, zeigt
beispielsweise der Vergleich der von Bischoff untersuchten Berliner
Handschriften mit den Datierungen in den handschriftlichen oder
gedruckten Katalogen der Bibliothek aus den letzten Jahren: Während
grobe Abweichungen in den Ansetzungen nur sehr selten auftreten, sind
Eingrenzungen bei der Orts- und Zeitbestimmung sehr häufig, und zwar
bezeichnenderweise gerade auch gegenüber Bischoffs eigenen älteren,
brieflich geäußerten Ansetzungen selbst, auf die sich diese Kataloge
vielfach stützen. Die Herausgeber des Bandes seien daher daran
erinnert, daß Bischoff selbst vermutlich aus Kostengründen zwar auf
einen begleitenden Tafelband für seinen paläographischen Katalog
verzichten wollte; aber eine Sammlung von Tafeln, die die
verschiedenen paläographischen Gruppen veranschaulichen, plante er
schon, seinem Band beizugeben.[9]
Bernd Michael
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