Das in lateinischer Sprache verfaßte Prooemium des Bearbeiters der Originalausgabe, Carolus Egger, macht darauf aufmerksam, daß Umschreibungen und Neubildungen nach Möglichkeit aus dem im Thesaurus linguae latinae erschlossenen lateinischen Wortschatz bis zum frühen 7. Jahrhundert abgeleitet werden, also nicht nur aus den klassischen paganen Autoren, sondern auch aus den Texten der Kirchenväter. Wenn auf dieser Grundlage keine Möglichkeit zur Bildung einer adäquaten Formulierung bestand, wurde auf mittelalterliches Latein, Kirchenlatein und das Griechische zurückgegriffen.
Das von den Übersetzern verfaßt Vorwort zur deutschen Ausgabe erläutert die Vorgehensweise bei der Übertragung der italienischen Vorlage. Man habe "den [!] lateinischen 'Corpus' möglichst wenig" angetastet und "es im Wesentlichen bei einer Übersetzung der italienischen Stichwörter ins Deutsche ... belassen"; allerdings seien Stichwörter, die aufgrund eines "zu direkten Italienbezug(s)... einer besonderen Erklärung für den deutschen Benutzer bedurft hätten" getilgt worden (was trotz gegenteiliger Beteuerung im Vorwort leider auch für das verloren gegangene Stichwort Spaghetti gilt). Es versteht sich, daß die Übersetzung eine Fülle von Zergliederungen, Umstellungen und aus Gründen der unterschiedlichen Syntax auch Streichungen erforderlich machte. Im Gegensatz zur italienischen Ausgabe wird bei Ableitungen aus dem Griechischen leider auf Angaben zur Etymologie wie überhaupt auf die Verwendung griechischer Schriftzeichen verzichtet.
Während im ersten Satz der lateinischen Vorrede auf ein Vorbild
verwiesen wird, nämlich das Lexicon vocabulorum quae difficilius
Latine redduntur[3] von Antonio Bacci aus dem Jahr 1963, preisen die
deutschen Bearbeiter das Werk als "ein absolutes Novum" an. Ein Blick
auf die letzte Seite des Bandes lehrt, daß dies nicht richtig ist.
Dort werden nicht nur Wörterbücher zur antiken und mittelalterlichen
Latinität genannt, sondern auch mehrere neulateinische Wörterbücher
verzeichnet. Das dort gleichfalls genannte Lexicon auxiliare von
Christian Helfer (LA) ist übrigens nicht (wie bereits in der
italienischen Originalausgabe versehentlich gedruckt) 1885, sondern in
2. Aufl. 1985 erschienen und liegt seit 1991 in 3., sehr verb. Aufl.
vor.[4] Es dürfte einen Umfang haben, der demjenigen des Neuen
Latein-Lexikons (NLL) quantitativ in etwa entspricht, hat jedoch
gegenüber diesem den großen Vorzug, soweit wie möglich einen
Quellenbeleg für die (neu)lateinischen Begriffe und Wendungen
anzugeben. Ein punktueller Vergleich zwischen diesen beiden
deutsch-lateinischen Wörterbüchern, deren Wortbestand sich an sehr
vielen Stellen ergänzt, bietet sich an.
Die Bildung zusammengesetzter Begriffe ist im Lateinischen weitaus
unüblicher als etwa im Griechischen oder Deutschen. Generell übt das
NLL Zurückhaltung, wenn es darum geht, Neologismen zuzulassen.
Stattdessen werden in vielen Fällen rein lateinische Umschreibungen
bevorzugt, so etwa für "Autobahn" latior via vehicularis (LA: strata
autocinetica), für "Tennis" manubriati reticuli ludus (LA: teniludus
oder tenisia, beides im 15. Jahrhundert belegt) bzw. für "Tischtennis"
ludus pilae mensalis (LA: tenisia mensalis, erster Beleg von 1981). Es
gibt, wie man sieht, durchaus unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten,
um ein und dieselbe Sache zu benennen. Da der aktive Gebrauch des
Lateinischen gegenwärtig auf wenige Refugien beschränkt ist (z.B. die
Acta Apostolicae Sedis oder die Praefationes moderner textkritischer
Ausgaben), kann die am usus abzulesende Lebensfähigkeit der
vorgeschlagenen Formulierungen nur beurteilen, wer über einen
ausgesprochen langen Atem verfügt und die nicht eben zahlreichen
lateinischen Publikationen in den Zeitschriften Latinitas (Città del
Vaticano. - 1953 - ) und Vox latina (München bzw. Saarbrücken. - 1965
- ) zur Kenntnis nimmt. Ob man den "Cowboy", der in älteren
deutsch-lateinischen Wörterbüchern noch nicht zu finden ist, nun
armentarius bzw. pecuarius (NLL) oder lieber bubulcus (LA) nennt,
bleibt natürlich jedem freigestellt (alle drei Begriffe waren übrigens
schon in der Antike gebräuchlich und sind damit streng genommen nicht
neulateinisch). Bei der Neubildung lateinischer Bezeichnungen sind
jedenfalls Kreativität und Sprachgefühl ebenso gefragt, wie ein
souveräner Umgang mit dem überlieferten Wortschatz. Verbindliche
Vorschläge gibt es nicht, denn über das Lateinische wacht keine
Académie.
Bei mehrdeutigen deutschen Begriffen (z.B. "Marsch", "Star") sollte
der Benutzer des NLL gute Grundkenntnisse besitzen oder ein
lateinisch-deutsches Wörterbuch zur Hand haben, um die genaue
Bedeutung der angebotenen Entsprechungen (meist mit Synonymen) zu
ermitteln. Zu Recht wird im Vorwort darauf hingewiesen, daß die
aufgeführten Synonyme vielfach nur einen Teilaspekt des lateinischen
Haupteintrags wiedergeben und nicht einfach austauschbar sind. Gerade
die Lektüre solcher etwas umfangreicherer Einträge dürfte bei manchem
Benutzer die Erinnerung an vergessen geglaubtes Schulwissen
wachrufen!
Was die Berücksichtigung der modernen "Jugend-, Szene- und
Vulgärsprache" angeht, kann in beiden Lexika natürlich nur eine kleine
und eher willkürliche Auswahl geboten werden. Auch auf diesem Feld ist
es ratsam, in beiden Wörterbüchern nachzuschlagen. So findet sich im
NLL unter "spinnen" nur die heute selten benötigte Entsprechung neo,
nere, nicht aber die übertragene Bedeutung im Sinne von delirat oder
ineptit (LA). Dafür findet man beim Stichwort "Szene" (nur in NLL)
sowohl die auf das Theater bezogene scaena bzw. eine fabulae scaenicae
pars, als auch vier Formulierungen für die übertragene Bedeutung irae
effusio, bilis eruptio, indecorum iurgium und plebeium convicium.
Die Herkunft des NLL aus dem Umkreis des Heiligen Stuhls zeigt sich
daran, daß verhältnismäßig viele Begriffe aus dem kirchlichen Leben
berücksichtigt wurden, die nicht alle zur heutigen Alltagssprache
zählen (etwa die Einträge "johanneisch", "suburbikarisch",
"Antikatholik", "Kasel", "Pluviale", "Servit" und "Weihwasserbecken",
alle nicht in LA).
Es trifft zu, was auf dem Klappentext des NLL versprochen wird: Die
Lektüre "fördert das Verständnis für die spezielle Art des
Lateinischen, vermittelt nicht selten überraschende Einsichten und
lädt bei aller Ernsthaftigkeit des Anspruchs häufig zum Schmunzeln
ein". In der Tat erweist sich Latein keineswegs als ausdrucksarme,
sondern als kraftvolle und flexible Sprache; als solche besitzt es
jedoch einen größeren "praktischen Nutzwert" als "aktuelle lateinische
Begriffe in der gesprochenen wie in der Schriftsprache effektvoll
einzusetzen" (so der werbende Klappentext). Wer mit lateinischem
"Flitter" (splendor inanis) angeben will, sollte besser gleich zum
Zitaten-Lexikon greifen. Wer jedoch Freude daran hat, die
Möglichkeiten der angeblich toten Sprache auszuloten oder gelegentlich
ein wenig auf Lateinisch zu parlieren, findet im NLL viele
Anregungen.
Christian Heitzmann
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