Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel dokumentieren die Benutzung der Bibliothek über einen Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten, vom Beginn der öffentlichen Bibliothek nach dem Tod Herzog Augusts d. J. bis zum Ende des Herzogtums nach den Napoleonischen Kriegen 1806. Die akribische Auswertung solch sperrigen Materi- als - Benutzernamen und ausgeliehene Titel in den Ausleihbücher wurden teils unvollständig verzeichnet, statt des Titels wurde oft nur die Signatur registriert, der Eintrag des Ausleihvorgangs wurde nach Rückgabe des Buches ausgestrichen - war Kärrnerarbeit und verlangt schon deshalb hohe Anerkennung und Achtung.
Bereits 1989 erschien Teil B der Edition und wurde intensiv
diskutiert. Obwohl bereits in ZfBB angezeigt und gewürdigt,[1] sollen
dieser und die Hauptpunkte der Kritik zum besseren Verständnis der
erst viel später erschienenen Teile A und C und der dort vollzogenen
Änderungen kurz beschrieben werden. Teil B verzeichnet die
Entleihungen der Jahre 1714 bis 1799. Bd. 1 enthält das alphabetische
Verzeichnis der Leser, erweitert um - soweit zu ermitteln - Angaben
zur Person. Jedem Leser (oder besser: jedem Entleiher) werden in
chronologischer Folge Datum, Verfasser, Kurztitel jeder Entleihung
sowie die Anzahl der Bände und die Signaturen zugeordnet. In Bd. 2
wurden soziale Lesergruppen gebildet, innerhalb derer die entliehenen
Titel des gesamten bearbeiteten Zeitraums mit nachgestellten
Ausleihdaten, Namen und dem Stand oder Beruf des jeweiligen Entleihers
einzelnen Fachgebieten zugewiesen wurden. Dabei ist die moderne
Sachgruppensystematik auch für die Herausgeberin unbefriedigend. Die
entliehenen Schriften stehen im Mittelpunkt von Bd. 3, dem Alphabet
der Verfasserschriften folgt das Alphabet der Sachtitelschriften bzw.
jener Titel, bei denen kein Verfasser ermittelt werden konnte. In Bd.
4 sind dann die entliehenen Bücher mit den bereits bekannten
Entleiherdaten nach der in Band 2 eingeführten Fachgebietssystematik
verzeichnet. Jedem Band sind umfangreiche statistische Auswertungen
und zahlreiche Übersichten beigegeben, die das edierte Material
auswerten und entschlüsseln helfen sollen.[2]
Teil B wurde als "Meilenstein in der Erforschung der Geschichte des
Lesens im 18. Jahrhundert"[3] und als "herausragendes Ereignis in der
neueren Sozialgeschichte der deutschen Literatur"[4] gewürdigt. Kritisch
bewertet wurden zum einen die Wiederholungen ein und derselben
Sachverhalte in gleicher Form in allen Bänden, die das Werk
tatsächlich stark aufblähen. Weitaus schwerwiegendere Auswirkungen auf
die Benutzbarkeit hat aber das Fehlen der Erscheinungsvermerke, die
zwar von Mechthild Raabe ermittelt,[5] aber aus nicht nachvollziehbaren
Gründen nicht in die Edition aufgenommen wurden. McCarthy, der bereits
1983 anläßlich seiner Auswertung eines kleinen Teils der
Wolfenbütteler Ausleihbücher auf die Unabdingbarkeit vollständiger
Identifizierung von Lesern und Büchern hingewiesen hatte,[6] kritisierte
deshalb zu Recht: "Eine Quellenpublikation, die jedoch mehr sein will
als nur eine (getreue) Wiedergabe der Quellenbefunde, muß die
lückenhafte Auskunft durch bibliographische Detektivarbeit ergänzen."[7]
Die Feststellung in der oben genannten Rezension in der ZfBB, daß Teil
B der Edition Bibliothekaren ein neues bibliographisches
Nachschlagewerk für seltene Titel aus dem 18. Jahrhundert zur
Verfügung gestellt hätte,[8] kann deshalb nicht recht nachvollzogen
werden, muß doch durch jeden Benutzer noch einmal Katalogarbeit
geleistet werden.
Über diese Kritik hinaus wurden ungenaue Identifizierungen von
Verfassern und Titeln sowie falsche Klassifizierungen der Schriften
durch Martino nachgewiesen.[9] Bei bibliographischer Unvollständigkeit
und ungenauer Identifizierung steht auch die auf dem edierten Material
fußende Statistik auf wackeligen Füßen.
Mit Freude kann nun in den Teilen A und C festgestellt werden, daß die
kritischen Einwände der Rezensenten durch Mechthild Raabe aufgegriffen
und in Anlage und Aufbau der Teile ihren Niederschlag gefunden haben.
Dabei erfuhr die Edition aus Gründen der Vergleichbarkeit zwar keine
grundsätzliche Änderung, das Editionscorpus wurde aber verschlankt,
die obengenannten Kritikpunkte wurden umgesetzt: Teil A verzeichnet
die Entleiher und entliehenen Schriften für die Jahre 1664 bis 1713.
Bd. 1 entspricht dabei mit dem ersten Abschnitt Leser und Lektüre dem
Bd. 1, Teil B und mit dem zweiten Abschnitt Lesergruppen und Lektüre
dem Bd. 2, Teil B. Auf die Wiederholung der Leserangaben und auf die
Mehrfachnennung gleicher Titel wurde im zweiten Abschnitt, der damit
Registerfunktionen hat, verzichtet, was der Übersichtlichkeit des
Bandes sehr entgegenkommt. Bd. 2 beschäftigt sich wie Bd. 3, Teil B
mit den entliehenen Schriften, wobei die Sachtitelschriften in das
Verfasseralphabet eingereiht wurden. Unter jedem Titel sind in -
verglichen mit Teil B - übersichtlicherem Layout die Entleiher
chronologisch nach den Ausleihdaten geordnet. Es folgen das dem Bd. 4,
Teil B entsprechende systematische Verzeichnis der entliehenen Bücher
sowie Statistiken und Übersichten.
Teil C enthält im Bd. 1 zunächst analog zum Teil A die Leser und
Lektüre der Jahre 1800 bis 1806. Es folgt das Chronologische
Verzeichnis der entliehenen Bücher 1664 - 1719, dessen Publikation
einen Mangel in der Anlage der gesamten Edition behebt: Hier wird das
Quellenmaterial am ehesten widergespiegelt, indem in der Edition
innerhalb eines Jahres chronologisch nach Ausleihdaten die Entleiher
mit Berufs- oder Standesbezeichnung sowie die entliehenen Titel mit
ergänzten Erscheinungsorten, Jahren und Signaturen aufgeführt werden.
Auch für den Zeitraum 1714 bis 1799 wurden die Verfasservornamen und
die Erscheinungsvermerke nachgetragen. Darüber hinaus sind die
Korrekturen von Martino sowie die sich daraus ergebenden statistischen
Veränderungen - das haben Stichproben ergeben - geprüft und
eingearbeitet worden. So gelangt der Benutzer des Teils B zwar mühsam,
aber immerhin ohne weitere Hilfsmittel zur Hand nehmen zu müssen, über
das Chronologische Verzeichnis in Teil C (es sei denn, der Kurztitel
reicht nicht aus) an korrigierte Daten.
Jedem Teil wurden übrigens durch die Herausgeberin auch eine
umfangreiche Einleitung, der Versuch einer ersten Auswertung sowie
Anregungen zur weiteren Forschung vorangestellt. Diese Kapitel wurden
leicht überarbeitet und zusammengefaßt in dem oben aufgeführten
Privatdruck von 300 Exemplaren, der zu einem erschwinglichen Preis
erworben werden kann.
Der historischen Leserforschung sind mit der vorliegenden Edition nun
die Bibliotheksbenutzer der Herzog-August-Bibliothek und damit die
lesende Hofgesellschaft ebenso wie die lesende Bürgerschaft, ein Stück
näher gerückt. Der Tunnel durch den - wie ihn Engelsing nannte - "Berg
von Hirsebrei ins Schlaraffenland" wurde vorangetrieben. Ein Blick auf
die zahlreichen Ausleihbücher in deutschen Bibliotheken und Archiven
zeigt aber,[10] welche Mengen allein dieser Quellengattung der
historischen (Bibliotheks)-Leserforschung, die zumindest nach Paul
Raabe eigentlich Aufgabe von Bibliothekaren sein sollte,[11] noch der
Bearbeitung harren.
Kathrin Paasch
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