Betrachten wir die beiden Bücher nun also separat. Das Buch von Lorenz weckt hohe Erwartungen, die nicht nur aus der Titelformulierung resultieren, sondern die auch durch den im Verlagstext wiedergegebenen weitgefaßten thematischen Bogen unterstützt werden. Der Umfang des Buches läßt zusätzlich Interesse aufkommen, wie wohl ein derart weitgefaßtes Thema auf knappem Raum adäquat behandelt werden kann. Um es kurz zu machen, näheres Hinsehen macht schnell klar: das Buch ist eine Enttäuschung. Es erinnert in weiten Strecken an Folien, die für die Zwecke von Lehrveranstaltungen erstellt und die hier mit minimalsten Übergängen zusammengestellt wurden, die ohne die erläuternden Ausführungen eines Dozenten kaum verständlich sein dürften. Dieser Charakter wird durch die stoffliche Zusammenstellung deutlich, die streckenweise sehr zusammengewürfelt anmutet. Ein roter Faden fehlt, erst recht ein didaktisches Konzept; es finden sich beispielsweise an mindestens vier Stellen Definitionen zu Klassifikationssystem, die nicht identisch sind. So enthält das Buch eine inhomogene Mischung aus Textpassagen mit stichpunktartigen Aufzählungen und Beispielen (sowohl einzelner Systeme als auch vergleichende), die nicht näher erläutert werden.
Die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis des Buches zur Systematischen Aufstellung ... bleibt auch nach der Lektüre unklar. An mehreren Stellen finden sich Bezugnahmen, die deutlich machen, daß es sich um ein allgemeineres Buch handeln soll. Konsequent ausgearbeitet ist dieses Verhältnis jedoch nicht; so finden sich verschiedentlich auch Doppelungen.
Am interessantesten empfindet der Rezensent noch einen Exkurs in die
Geschichte der Klassifikationssysteme und deren Anwendung, der sicher
aber in seiner Kürze und Dichte für unvorbereitete Leser auch nicht
leicht aufnehmbar ist, da vielfach wichtige Kontext-Einordnungen
unterbleiben.[3]
Auf ein Literaturverzeichnis muß man verzichten; die Begründung
lautet: "Ziel dieses Versuchs einer Einführung in die
Klassifikatorische Sacherschließung ist das - sehr komprimierte
- Aufzeigen von grundsätzlichen Fragestellungen und Lösungsansätzen.
Daher wird auch weitgehend auf Literaturangaben verzichtet"
(Einleitung, S. 7). Zur Regensburger Verbundklassifikation findet sich
allerdings im Buch eine ausführliche Bibliographie. Ein Register fehlt
gleichfalls. Beides trägt zusätzlich zum schlechten Eindruck bei, den
der Band insgesamt hinterläßt.
Das Buch von Nohr erfüllt inhaltlich zunächst ein großes Desiderat,
indem es in einer Monographie eine geschlossene Behandlung der in den
deutschen öffentlichen Bibliotheken verwendeten
Aufstellungssystematiken liefert. Eine solche Darstellung fehlte
bisher auf dem deutschen Buchmarkt. Behandelt werden zunächst die
bekannten vier: die Allgemeine Systematik für öffentliche Bibliotheken
(ASB), die Klassifikation der Sachliteratur und der Schönen Literatur
(SSD), die Systematik für Bibliotheken (SfB) und die Klassifikation
für Allgemeinbibliotheken (KAB). Ergänzend - und dies verdient
besonders hervorgehoben zu werden - wird die Systematik für
katholische öffentliche Büchereien (SKB) vorgestellt, die als
Systematik aus methodischen Gesichtspunkten nicht viel Besonderes zu
bieten vermag, die es angesichts ihrer Verbreitung zu Recht verdient,
einmal vorgestellt zu werden. Die Vielfalt der Systeme wird im Kontext
der Bemühungen um eine Einheitsklassifikation diskutiert, denen ein
eigener Abschnitt gewidmet ist.
In der Vorstellung der Systematiken hält sich Nohr an ein
standardisiertes Beschreibungsschema, das die Lesbarkeit des Textes
jedoch nicht beeinträchtigt. Zu den Systemen werden knappe historische
Anmerkungen, ihre Verbreitung und charakterisierende Eigenschaften
ihrer Strukturmerkmale gegeben. Natürlich sind derartige
Beschreibungen schnell nicht mehr aktuell; daher ist es sinnvoll, daß
es Nohr nicht bei der Aufzählung des Faktischen bewenden läßt, sondern
daß er versucht, die jeweiligen über den Tag hinausreichenden
Besonderheiten herauszustellen.
Aufmerksame Leser werden auch feststellen, daß mitunter Details
fehlen. So werden etwa bei der SSD mehrere Besonderheiten nicht
genannt (z.B. -YB als normierte Biographien-Klassen; Z als in die
Aufstellung integrierter Stoffkreisführer für die Schöne Literatur;
Empfehlungen der Ordnungsabfolge innerhalb einer Systemstelle durch -
/ + Angaben). Den insgesamt positiven Gesamteindruck der
Beschreibungen kann dies jedoch nicht entscheidend trüben.
Als aus dem Rahmen eines solchen Buches fallend könnten zwei weitere
Kapitel angesehen werden: eines über Klassifikationstheorie und eines
über verbale Sacherschließung in öffentlichen Bibliotheken.
Naheliegend ist dagegen, daß auch der Anwendung von
Klassifikationssystemen für das Retrieval in Online-Katalogen
Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Verfasser vertritt für alle drei
Kapitel den Standpunkt, daß es angebracht ist, die behandelte Thematik
in einen erweiterten Kontext zu rücken, um nicht der Gefahr zu
unterliegen, Fragen der klassifikatorischen Erschließung zu isoliert
zu sehen, sondern Erschließung in einer Bibliothek immer als ein
Gesamtpaket aus verschiedenen Komponenten zu verstehen. Die
Vorgehensweise im Zusammenhang mit der ASB-Revision liefert durchaus
beredtes Zeugnis für die Berechtigung dieser Position.[4] Am meisten
gilt dies sicher für die mehr theoretischen Erörterungen zu Fragen der
Klassifikationstheorie. Dabei kann dieser Abschnitt kein Ersatz für
eine Lehrbuchdarstellung sein, sie liefert aber - auf einer
terminologisch adäquaten Basis - die notwendigsten Grundbegriffe. In
gewisser Weise wird mit diesem Abschnitt ein Teil des Anspruchs
eingelöst, der im Buch von Lorenz aufgestellt worden ist -
pikanterweise zu einem früheren Zeitpunkt in einem anderen Titel
desselben Verlags.
Abgerundet wird der Text durch ein Literaturverzeichnis und ein
Register.
In der Zusammenschau läßt sich sagen: es hätte für den Rezensenten
nahegelegen - und liegt es immer noch, da die jüngsten Veränderungen
im Bereich der Aufstellungssystematiken für öffentliche Bibliotheken
ohnehin eine Überarbeitung des Nohr-Titels angeraten scheinen lassen
- die beiden Autoren zu veranlassen, ihre jeweiligen den
Aufstellungssystematiken gewidmeten Texte zu einem Werk zu vereinen.
Eine Abrundung durch Kapitel, die den mehr theoretischen Fragen der
Erstellung und Bewertung von Klassifikationssystemen gewidmet sind,
kann dabei nur positiv sein. Der von Nohr gewählte Ansatz kann hierfür
durchaus weiter verfolgt werden, wenn auch in ausgebauter Form. Den
von Lorenz gewählten Weg kann man hierfür nicht ernsthaft diskutieren.
Ein solches zusammenfassendes Buch hätte für die beabsichtigte
Unterstützung der Ausbildung von angehenden Bibliothekaren und der
Bibliotheken einen hohen Nutzen. Der neue Titel von Lorenz hat hierfür
keine eigenständige Bedeutung - die Titelformulierung ist insofern
irreführend. Insgesamt liefern die beiden Titel wieder einmal ein
beredtes Beispiel dafür, welchen förderlichen Einfluß Verlagslektoren
auf Qualität und Ausstattung eines Buches nehmen könnten. Man kann bei
dem vorhandenen Unterschied nicht annehmen, daß diese beiden Bücher
einen gleichartigen Lektorierungsprozeß durchlaufen haben.
Winfried Goedert
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