Der russische Begriff Samizdat ist eine Analogiebildung zu den
sowjetischen offiziellen Verlagsabkürzungen wie Gosizdat für
Gosudarstvennoe Izdatel'stvo, Staatsverlag, und wäre mit Selbstverlag
zu übersetzen. Er stammt aus den vierziger Jahren, als Nikolaj Glazkov
(1919 - 1979), einer der nonkonformen Lyriker, einen Ausweg suchte,
wie er seine aus politischen Gründen nicht gedruckten Gedichte
wenigstens einem kleinen Kreis zugänglich machen könne. Er stellte
systematisch Abschriften her und verteilte sie. Da er darin einen
Ersatz für einen Buchdruck sah und nicht nur eine private Weitergabe
von Kopien, bezeichnete er sein Handeln und die Produkte als
Sam-sebja-izdat (Sich-selbst-Verlag/Verleger). Aus diesem Wort
entstand etwa ab 1959 der Begriff Samizdat. Die technische Herstellung
war meist auf getippte Durchschläge beschränkt, da sich in der
Sowjetunion Vervielfältigungsmaschinen nicht in privatem Besitz
befinden durften. Die Herstellung von Samizdat-Editionen trug zum Teil
durchaus kommerziellen Charakter. Manche Ausgaben blieben auf vom
Autor gefertigte, oft auch gebundene, etwa sieben Exemplare
beschränkt. Viele dieser aus der Sicht des sowjetischen Staates
illegalen Samizdat-Ausgaben gelangten in den Westen, wo in der
Breschnewzeit Zentren zur Sammlung solcher Texte geschaffen wurden.
Besondere Verdienste hat hier Radio Liberty in München, das auch
Kataloge herausgab.[1] Mit der Aufhebung der Zensur endete der Samizdat,
vieles ist inzwischen von Verlagen gedruckt worden. Aber die Lust von
Autoren, aus ästhetischen Gründen gelegentlich ein Buch besonders
schön selbst herzustellen, ist geblieben. Fast 50 Prozent der in dem
vorliegenden Ausstellungskatalog verzeichneten Bücher sind in den
letzten Jahren ohne Gefahr für den Autor hergestellt worden und keine
Folge der sowjetischen Zensur. Sie sind kein Samizdat im Sinne des
festgelegten Begriffes.
Der umfassende Titel der neuen in Bochum und Bremen zusammengestellten
Ausgabe läßt auf einen Überblick über Samizdat-Ausgaben schließen, man
erwartet beispielhafte Bücher aus Politik, Wirtschaft, Literatur,
Philosophie, Theologie, Kunst und eventuell auch Hefte der
Samizdat-Zeitschriften. Statt dessen ist der Band auf den ganz engen
und kleinen Spezialbereich der Sprach- und Bildwerke beschränkt, die
gegenwärtig als "postmodern" bezeichnet werden. Dementsprechend sind
die zur Zeit von den Herausgebern im Rahmen der deutschen Slawistik
propagierten Autoren wie I. Cholin, A. Monastyrskij, L. Rubinstejn, V.
Sorokin vertreten, nicht aber Autoren wie A. Achmatova, M. Bulgakov,
B. Chazanov, V. Dudincev, A. Sinjavskij (Terc), A. Solcenicyn, die
ebenso zum Samizdat gehörten und eine erheblich größere Rolle in der
russischen Literatur spielen. Wegen ihrer sehr geringen Bedeutung im
Inland bezeichnen Russen die "Postmoderne" als "Literatur für
Slawisten".[2]
Der Band geht auf eine Ausstellung zurück, und in Abbildungen aus den
wichtigsten der insgesamt 304 Exponate liegt der größte Wert.
Einbezogen sind etwa vierzig Autoren und einige künstlerische
Gruppierungen mit übersetzten Textauszügen und von den Autoren
geschaffenen Illustrationen. Vor allem bei den etwa 50 Prozent, die
aus den letzten Jahren stammen und nicht unter Gefährdung der eigenen
Freiheit über den Samizdat der Sowjetzeit verbreitet wurden, zeigen
die zahlreichen Abbildungen der handgemachten Bücher interessante, in
der Tradition der zwanziger Jahre stehende Verbindungen von bildender
und sprachlicher Kunst.
Wenn man an Kunst und Literatur geistige Ansprüche stellt und mit
Provokation, Spiel und Illustration nicht zufrieden ist, besitzt der
Band höchstens Informationswert. Einige Zufallsbeispiele:
Kulik/Sorokin: "Matrjona pfurzte schon am Bett als sie aufwachte und
als sie aufstant [sic] und als sie den Ofen heizte pfurzte sie immer
noch und pfurzte
..." (S. 190). K. Zvezdoèetov: "Ich würde etagenweise, eine nach der
anderen, alle großen Städte übereinanderbauen Babylon, Ninive [folgt
Liste von etwa 100 Städten]" (S. 145). Vs. Nekrasov: "auch gut : geht
auch [nach Abstand und Doppelpunkt darunter] geht auch : auch gut" (S.
57). A. Brener [in sieben Zeilen untereinander]: "Was juckt mich? Mich
juckt und macht geil eigentlich nur eins - das Geld" (S. 187). P.
Mitjucev: "100 Reime auf das Wort 'Fotze'" (S. 211).
Leider ist das Buch auch als Nachschlagewerk ungeeignet. Es bietet
zwar Beschreibungen der Exponate, auch kurze biographische Angaben zu
etwa 70 Schriftstellern, aber kein Register. Die Beigabe einer CD-ROM
wirkt vielversprechend. Dort sind 27 Projekte von 20 Autoren und zwei
Gruppen aufgenommen. Die Abbildungen des Bandes werden wiederholt und
ergänzt. Die technischen Möglichkeiten, über ein eingearbeitetes
Register mit einem Klick zu den gesuchten Objekten zu gelangen, wurden
aber nicht genutzt. Man kann lediglich eine der 27 Dateien aufschlagen
und dann - ohne über den Inhalt und die Länge informiert zu sein
- Seite um Seite umblättern. Man wird schnell zum Buch zurückgreifen.
Erfreulich ist die ausführliche Einleitung, in der die Schriftkunst
der Exponate in einen großen, bei der altrussischen handschriftlichen
Buchkunst beginnenden Kontext gestellt und die Verbindung von Schrift
und Bild mit den von einigen der Autoren durchgeführten "poetischen
Performances" beschrieben wird.
Der Band richtet sich an einen kleinen, spezialisierten Kreis
innerhalb der Slawistik und wird diesen wegen hier präsentierter
Unikate begeistern.
Wolfgang Kasack
Zurück an den Bildanfang