Dem Charakter der Vorlesung entspricht es, daß nicht wenige Aussagen ohne Beleg bleiben und vieles aus zweiter Hand zitiert wird. Die Longseller-Liste aus dem Jahre 1938 etwa, die "jene Werke verzeichnet, die bis zu diesem Datum (...) Auflagen von mehr als einer halben Million Exemplaren erreicht" haben (S. 378) und die Wittmann nach einer Dissertation von 1981 reproduziert, ist indessen nur ein Auszug aus einer Statistik, die Horst Kliemann für das bekannte Propaganda-Buch Die Welt des Buches (Ebenhausen bei München 1938) zusammengetragen hat.
Unerfindlich bleibt es auch, warum Wittmann bei der Analyse des
unruhigen und bedrängten Buchmarkts des 17. Jahrhunderts am Zahlenwerk
der Meßkataloge festhält. Von den heute überlieferten Drucken des 17.
Jahrhunderts verzeichnen die Meßkataloge höchstens ein Drittel. Wie
Peter Düsterdieck überdies in einer bibliographischen Studie[1] gezeigt
hat, sind von den Novitäten lediglich fünfzig Prozent tatsächlich im
Jahr der Anzeige erschienen. Das reduziert den Quellenwert der
Meßkataloge auf das Niveau der heute zur Frankfurter Buchmesse
erscheinenden beiden Sondernummern des Börsenblatts. Es verbietet sich
daher von selbst, für das Jahr 1641 nur etwa 660 Neuerscheinungen und
für das Jahr 1740 nicht mehr als 750 Novitäten anzusetzen, es sei
denn, man geht davon aus, daß in den beiden Jahren zwei Drittel aller
Handpressen im Alten Reich stillgestanden haben. Wittmann weist zwar
den Leser auf die Arbeit von Düsterdieck hin, zieht aber aus der
Lektüre keine Konsequenzen.
Bibliogenetisch betrachtet ist die Taschenbuchausgabe eine
'Umschußauflage' (M. Boghardt). Der digitalisierte Text von 1991 ist
in das kleinere Kolumnenformat der Paperbackreihe umgegossen worden.
Die der Orientierung des Lesers dienenden lebenden Kolumnentitel sind
wie die markanten klassischen Kapitelinitialen weggefallen. Es
empfiehlt sich, das Inhaltsverzeichnis zu kopieren, wenn man nicht bei
dauerndem Zurückblättern den Titelbogen binnen kurzem zerfleddern
will. Wer den Untertitel von 1991 ("Ein Überblick"), der in der
CIP-Aufnahme für die neue Auflage noch als Titelanhängsel ("im
Überblick") vorhanden war, entfernt hat, entzieht sich unserer
Kenntnis.
In das Schlußkapitel hat Wittmann, gestützt auf die jüngste
Forschungsliteratur, einen präzisen Abriß des Buchhandels und der
Kulturpolitik in der DDR sowie deren Folgen nach der Wende eingefügt.
Die in den neuen Textpartien auftauchenden Namen sind nicht in das
Register aufgenommen worden, das ohnehin einige Unebenheiten aufweist.
E. R. Weiß und T'sai Lun stehen jetzt am richtigen alphabetischen Ort,
nicht aber Hans Baldung Grien. Die orthographischen Schwankungen
zwischen Text und Register (Behlke/Belke, Welcke/Welke,
Kirchhoff/Kirchhof) sind nicht bereinigt worden. Der Urahn Carl
Bertelsmann findet sich unter dem Dach des heutigen Verlags C.
Bertelsmann wieder. Der Peter-Hammer-Verlag ist aus dem Register
herausgefallen, da Wittmann seine abschätzige Äußerung über das
Unternehmen im Text getilgt hat. Dem Verleger Florian
Tilebier-Langenscheidt (S. 468, Fußn. 53) ist leider ein Dehmungs-e
abhanden gekommen. Die aus der ersten Auflage übernommene Zeittafel
ist offenbar nicht "durchgesehen" worden: Der unselige Moritz
Friedrich Illig hat nicht die "maschinelle Papierleimung" erfunden,
sondern die Masseleimung. Eine willkommene Zugabe ist hingegen die
neue Auswahl wichtiger Publikationen der Jahre 1991 - 1997, in der
sich auch Arbeiten aus dem Zeitraum von 1985 - 1990 finden.
Auf dem Weg zum Taschenbuch ist das ansehnliche Umschlagbild auf das
Format einer Sonderbriefmarke geschrumpft, und der zuständige Designer
hat es sich nicht nehmen lassen, es mit den emblematischen Balken der
Beck'schen Reihe zu überdrucken. Kurioserweise glauben Verfasser und
Verlag noch immer daran, es zeige das Interieur einer Amsterdamer
Buchhandlung. Die Reihen der Prachteinbände im Hintergrund, die soeben
zum Binden angelieferten Konvolute auf der Theke und die im Raum
verteilten Arbeitsgeräte lassen indessen keinen Zweifel daran
aufkommen, daß wir in den Laden eines Buchbinders blicken.
Ein auffälliger, pessimistischer Grundton hat sich in Wittmanns
Aussagen zur Zukunft des gedruckten Buches eingeschlichen. Heißt es
1991 noch: "Das Buch ist im Begriff, [seine] Funktion als kulturelles
Leitmedium zu verlieren, sie an die audiovisuellen Medien abzutreten"
(S. 396), so lesen wir jetzt: "Das Buch hat inzwischen seine Funktion
als Leitmedium weitgehend an die audiovisuellen Medien abgegeben" (S.
446). Als Prognostiker ist Wittmann jedoch nicht gerade vom Glück
begünstigt. Den Verzicht auf ein umfassendes Literaturverzeichnnis
begründet er 1991 mit dem Diktum, die im Erscheinen begriffene
Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im
deutschen Sprachgebiet 1840 - 1980 biete "darüber hinausgehende
erschöpfende Information" (S. 9). Die Leser der IFB wissen inzwischen,
daß diese Annahme ein Trugschluß gewesen ist. Im Vorwort zur
Taschenbuchausgabe vom Oktober 1998 zeigt Wittmann sich noch davon
überzeugt, der "erste Band der großen Geschichte des deutschen
Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert" werde "in Bälde" erscheinen
(S. 11). So wie die Dinge jetzt stehen, wird das seit sechzehn Jahren
in Vorbereitung befindliche Opus in diesem Jahrhundert nicht mehr das
Licht der Öffentlichkeit erblicken.
Horst Meyer
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